Skye im Himmel -
„Skye! Skye, wir wollen gleich los!“. Das war meine Ma. Ich hatte sie wirklich lieb, aber manchmal nervte sie echt. Seit sie ihren neuen Freund Erik kennen gelernt hatte, war sie nur noch im Zeitstress. Ich schrieb gerade eine E-Mail an meinen Freund, den ich leider drei Wochen lang nicht sehen würde. Eigentlich wollte ich ja erst alleine zu Hause bleiben, doch Ma nötigte mich dazu, mit Erik und ihr an die Ostessee zu fahren. Meine schönen Sommerferien! „Komme gleich!“, rief ich die Treppe runter. Seufzend beendete ich meine Mail und schaltete meinen Computer aus. Als ich aus der Haustür trat, saß Erik bereits hinterm Steuer. Er hatte seine Haare mit noch mehr Gel voll geschmiert als sonst. Ma lief geschäftig zwischen Auto und Haus hin und her und verstaute die Koffer. Erik war echt ein fauler Sack. Und so einen wollte Ma heiraten. Abermals seufzend ließ ich mich auf die Rückbank fallen und holte meinen MP3-Player raus. Die Autofahrt würde langweilig werden. Und natürlich würde ich Recht behalten. Nachdem Ma sich zu uns gesellt hatte, gerieten wir tatsächlich sofort, als wir auf die Autobahn kamen, in einen Stau. An die geplanten zwei Stunden Autofahrt wurde kein einziger Gedanke mehr verschwendet. Wir brauchten ganze fünf Stunden. Unser Vermieter Herr Igonat erwartete uns schon. „Guten Tag“, sagte meine Ma höflich, „sind wir hier richtig: Sandweg 9?“ „Ja, dann müssen Sie Frau Luna sein“, sagte er und schüttelte Mas Hand. „Das sind mein Freund Erik und meine Tochter Skye“, stellte Ma uns vor. „Sehr erfreut Sie kennen zu lernen“, übertrieben freundlich schüttelte ich die Hand von Herrn Igonat. „Also, das ist die Ferienwohnung, Handtücher liegen bereit. Wenn Sie den Weg hier runter gehen, kommen Sie zur Steilküste. Da müssen Sie aufpassen, es gibt Treppen hinunter, aber bei heftigem Sturm würde ich nicht in die Nähe gehen. Schon etliche wären beinahe runtergestürzt…“ Oh nein, ich liebte das Meer bei Sturm, aber meine Ma würde mich wahrscheinlich nicht lassen. Hätte Herr Igonat nicht seine Klappe halten können? Noch am selben Abend lief ich zur Steilküste. Von da aus hatte man eine super Aussicht auf das Meer und den Strand. Die Ferienwohnung war sehr schön und aus dem Fenster meines Zimmers sah man ein Feld, auf dem ich sogar schon Rehe entdeckt hatte. Aber ich hatte schon jetzt die Schnauze voll von Mas und Mr Erik Schmiers peinlichem Getue von einem wunderschönen Urlaub und von dem Gerede, dass wir bald eine tolle Familie sein würden. Ich sprang leichten Fußes die Treppe herunter, meine Mutter wäre entsetzt, und lief ans Wasser. Ich schlüpfte aus meinen Schuhen und genoss die Stille. Ich fühlte mich frei, ganz anders als in der Nähe von anderen Menschen. Ich liebte die Ruhe. Vereinzelt waren Möwen zu sehen und ich entdeckte einen schwarzen Vogel am Himmel, der seine Runden flog. Die ersten drei Tage verbrachte ich tagsüber auf der Steilküste, wo kaum Leute waren. Abends aber erfreute ich mich an der Stille, lag am Strand und ging schwimmen. Ma wusste davon nichts. Sie würde es zwar nicht gutheißen, aber im Moment interessierte es sie nicht, was ich tat. Am vierten Tag erlebte ich etwas Schreckliches. Am späten Nachmittag stand ich oben und blickte auf einen fast leeren Teil des Strandes. Ich lauschte auf die Geräusche: Das Rauschen des Meeres, entferntes Gelächter von Menschen. So war es kein Wunder, dass ich sofort die Schritte hörte, die sich näherten. Ich drehte mich um und sah einen Jungen. Schwarze halb lange Haare und ein muskulöser Körper. Er hatte schwarze Shorts und ein dunkelblaues kurzärmliges Hemd an, bei dem die obersten Knöpfe offen waren. Mir stockte der Atem. Er sah aus wie…, ja wie nur? Es gab keine Worte, keinen Vergleich, der gepasst hätte. Als er mich sah, legte er seinen Finger auf die Lippen. Was meinte er? Hier würde mich eh keiner hören, wenn ich rufen würde. Stirn runzelnd sah ich ihm zu, während er so weit wie möglich von der Klippe zurückwich. Es sah so aus als er ob Anlauf nehmen wollte, aber das konnte nicht sein, oder? Doch tatsächlich, er rannte los und sprang, sehr elegant übrigens, die Klippe hinunter. Es sah aus, als ob er dies schon tausendmal gemacht hätte. Ich wollte aufschreien, doch kein Laut kam über meine Lippen. Ich eilte zum Abhang, konnte ihn jedoch nicht entdecken. Nur einen schwarzen Vogel sah ich oben am Himmel. Beim Abendessen schwieg ich, vielleicht hätte ich jemandem davon erzählen sollen. Es war schwierig, so etwas für sich zu behalten. Aber mir war klar, dass er heute Morgen mit seinem Finger auf den Lippen gemeint hatte, dass ich niemandem etwas sagen sollte. Er hatte gelächelt, als er gesprungen war. Lächelte man etwa, wenn man Selbstmord begang? So abwegig wie es klang, war es aber gar nicht. Man dachte schließlich, dass man alles Schlimme hinter sich lassen würde. Am nächsten Morgen lief ich zu der Stelle und schaute mich um. Ich sah nichts und niemanden. Langsam ließ ich meinen Blick über die Steilküste gleiten. Konnte man einen Sprung etwa überleben? Ich musste die ganze Zeit an diesen gut aussehenden Jungen mit dem Lächeln denken, während er auf dem Weg war, sich umzubringen. Warum tat ich das, ich hatte einen Freund, doch in den Ferien habe ich bis jetzt noch nie an diesen gedacht. Plötzlich entdeckte ich jemanden oben auf der Klippe. Ich war mir sofort sicher, dass es der Junge war. Wie konnte das sein? Er verschwand kurz, bevor er wieder auftauchte. Und dann sah ich ihn einen Kopfsprung von der Klippe machen. In Zeitlupe sah ich ihn auf die Erde zurasen, doch plötzlich war er weg. Nur ein schwarzer Vogel flog am Himmel. Es war mysteriös. War er ein Geist? Eine Einbildung, weil mir mein Freund fehlte? Oder war er doch wirklich? In der Nacht schlief ich schlecht. Ich träumte davon, wie er die Klippe heruntersprang und dann von einem großen schwarzen Vogel. Schweißgebadet wachte ich auf. Wo war bei diesen Träumen der Zusammenhang? Ich fasste einen Entschluss. Ich würde ihn fragen. Früh am Morgen stand ich auf. Aus dem Zimmer von Ma hörte ich Eriks sabberndes Geschnarche. Ich wollte an der Steilküste auf ihn warten, und damit ich ihn nicht verpassen würde, nahm ich mir Verpflegung für den ganzen Tag mit. Ich musste nicht lange warten, bis ich den Jungen sich nähern hörte. Stirnrunzelnd sah er mir entgegen, wie ich mich mit verschränkten Armen ihm in den Weg stellte. „Hey, was willst du?“, fragte er mich freundlich. Mir fiel ein, dass er mich noch gar nicht angesprochen hatte. Na ja, ich hatte ihn auch erst einmal von Nahem gesehen. Seine Stimme war genauso schön wie der Rest von ihm. Tief und klar. Ich fragte mich, wie alt er eigentlich war. „Wissen, was du tust. Es verwirrt mich, ich kann nicht mehr richtig schlafen“, erwiderte ich ihm. Er blickte mir in die Augen und ich schaute zurück. Sofort bereute ich es und wollte meinen Blick abwenden. Fast schmolz ich unter diesem Blick zu Butter. Seine Augen, sie waren perfekt. Sie waren genauso dunkelblau wie sein Hemd, welches er übrigens wieder anhatte. „Ich kann dir nichts verraten, solange ich nichts über dich weiß“, eine klare Feststellung, und trotzdem irgendwie…na ja, irgendwie seltsam. Hätte er mir nichts sagen wollen, hätte er es mir gesagt. Ich merkte, dass er mir die Wahrheit sagen würde. Wieder musste ich mich daran erinnern, wie ich ihn das erste Mal gesehen hatte. Warum war er überhaupt vor meinen Augen gesprungen? Wollte er etwa, dass ich es wusste? „Ich heiße Skye“, meinte ich etwas verlegen. Es war unhöflich gewesen, einen mir eigentlich fremden Jungen so zur Rede zur stellen. „Skye, ein schöner Name. Ich bin Cielo.“ Das war merkwürdig. Ich hatte ein Jahr lang Italienischunterricht genommen, und cielo hieß Himmel. Genauso wie mein Name. Als ich Cielo danach fragte, meinte er, dass er zwar nicht wusste warum, aber dass das bestimmt kein Zufall war. Nachdem wir uns eine Weile unterhalten hatten, kamen wir wieder auf das ursprüngliche Thema zurück. Cielo hatte sich lässig an einen Baum gelehnt und ich musterte ihn. Warum redete er überhaupt mit mir. Er war fast zwei Jahre älter, wie ich herausgefunden hatte. Aber das war ja nicht unbedingt ein Problem. Es kam mir so unecht vor, dass ausgerechnet ich einen so hübschen Jungen mit einem Geheimnis kennen gelernt hatte, welches er anscheinend sogar preisgeben wollte. „Erklärst du mir jetzt, was es mit dir auf sich hat?“, fragte ich Cielo schließlich. „Ich glaube schon“, erwiderte er lächelnd. Ich musste mich zusammenreißen, er war einfach hinreißend. „Es ist etwas kompliziert. Vielleicht wäre es besser, wenn du es ausprobierst. Es ist ganz einfach“, meinte er. „Du willst also, dass ich die Klippe herunterspringe?“, ich versuchte es so klingen zu lassen, als ob ich es für einen Scherz halten würde, aber insgeheim wusste ich, dass er es ernst meinte. „Ja klar. Wenn du willst, springe ich sogar zuerst.“ Oh Hilfe, auf was hatte ich mich hier nur eingelassen. Vorsichtig nickte ich. Er trat ein paar Schritte zurück, während ich mich an den Abhang stellte, so dass ich ihn genau beobachten konnte. Cielo nahm Anlauf und sprang. Er machte einen doppelten Salto rückwärts und als er auf dem Rücken lag, lächelte er mir ermunternd zu. Schließlich war er nicht mehr da, dafür stieg ein schwarzer Vogel hinauf in den Himmel. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Wenn ich nicht sprang, würde ich Cielo heute nicht wieder sehen. Und er hatte immer noch nicht meine Frage beantwortet. Kurz entschlossen trat ich ein paar Meter zurück. ’Meine Ma wird mich umbringen, sollte ich überleben’, dachte ich. „Du musst dich dabei entspannen“, ich zuckte zusammen, Cielo tauchte urplötzlich neben mir auf, „ich helfe dir, Skye. Du kannst mir vertrauen.“ Er nahm meine Hand. Sofort breitete sich tief in meinem Inneren, nahe dem Herzen, ein warmes, vertrauenswürdiges Gefühl aus. Es beruhigte mich und ich schloss meine Augen. Ich spürte Cielo neben mir, wusste, was er gleich machen würde. Und ohne dass wir uns abgesprochen hatten, liefen wir gleichzeitig los. Ich ließ mich blindlings von ihm führen. Es war ganz anders, als bei meinem Freund zu Hause. Bei dem fühlte ich mich nie so. Nicht so sicher. Liebte ich ihn etwa nicht mehr? Hatte ich ihn je richtig geliebt? Ich bezweifelte es. Es war bestimmt immer nur eine Schwärmerei gewesen. Erschrocken riss ich meine Augen auf, als plötzlich kein Boden mehr unter meinen Füßen war. Ich sah den Strand, auf den wir fallen würden, und als ich nach oben blickte die Klippe, von der wir gesprungen waren. Ich spürte, wie wir immer tiefer fielen, doch wir kamen nicht unten an. Neben mir war Cielo, er beobachtete mich gespannt. Er drückte meine Hand und lächelte mich an. Abermals musste ich mich zusammenreißen, um nicht in seinen Augen zu versinken. Ich hatte mich eindeutig verknallt. „Du musst versuchen dich zu entspannen, lasse alles fallen“, munterte er mich auf. Er nahm meine zweite Hand ebenfalls in seine und so tauschten unsere Körper einen Energiefluss aus. Langsam merkte ich, wie ich mich beruhigte. Immer noch stürzten wir in die Tiefe, mit rasender Geschwindigkeit, doch das war mir egal. Ich wusste, dass ich mich nicht verletzen würde. Ich merkte nicht, wie mein Körper sich verformte. Aber als Cielo plötzlich nicht mehr neben mir war und ich dem Strand immer näher kam, bekam ich Panik. „Benutz deine Flügel!“, hörte ich eine Stimme in meinem Kopf. Das war der Junge, der mir das hier eingebrockt hatte. Ich wusste, dass ich ihn hassen müsste, doch ich konnte es nicht. Seine Worte ergaben keinen Sinn, und so machte ich das, was in dieser Situation falsch war. Ich schloss meine Augen. „Nein!“, schrie es in mir, „schaue dich an. Du hast Flügel, benutze sie!“ Erschrocken riss ich meine Augen wieder auf und schaute an mir herunter, ich vertraute Cielo blindlings. Tatsächlich, mein Körper war nicht mehr derselbe. Ich hatte die Gestalt eines Vogels. Und da machte es endlich alles Sinn. Ich schlug kraftvoll mit meinen Armen hoch und runter und gewann an Höhe. Mir fiel plötzlich auf, wie knapp ich dem Genickbruch entkommen war. Nur noch wenige Meter hatten mich vom Erdboden getrennt. Es erschien ein schwarzer Vogel neben mir und ich wusste, dass es Cielo war und immer gewesen ist. Schließlich hatte ich ihn schon öfter am Himmel gesehen. Ich begriff, dass das alles kein Zufall gewesen war. Er hatte mich gleich am ersten Abend beobachtet und seine Entscheidung getroffen. Jetzt erst sah ich, dass er keineswegs ganz schwarz war. Auf seinem Rücken, oder eher gesagt auf dem Rücken des Vogels, waren dunkelblaue Streifen. Dadurch wirkte er noch geheimnisvoller und vor allem schöner. Cielo sah mir in die Augen und da hörte ich wieder seine Stimme im Kopf: „Gefällt es dir? Ich fühle mich so noch freier. Probiere mal einen Sturzflug. Es ist ein wundervolles Gefühl.“ Da ich nicht wusste, wie ich ihm antworten konnte, versuchte ich meine Augen sprechen zu lassen. ‚Danke, danke dass du mir das hier gezeigt hast.’ Er nickte, wenn man es so nennen konnte, es war eher eine Bewegung mit dem Vogelkopf, und ich wusste, er hatte mich verstanden. Wir drehten unsere Runden am Himmel und langsam gewöhnte ich mich daran. Es war ein tolles Gefühl. Und ich wagte sogar einen Sturzflug, wirklich atemberaubend. Später meinte Cielo: „Ich möchte dir gerne noch was zeigen.“ Ich nickte, was konnte es schon Schlimmes sein. Wir flogen in Richtung Steilküste und Cielo steuerte auf eine kleine Felsspalte zu. Dahinter verbarg sich eine große Höhle. Cielo ließ sich auf einem Felsvorsprung nieder. Dann verwandelte er sich zurück. Er wurde blitzschnell wieder ein Mensch. Als ob er meine unausgesprochene Frage gehört hätte, erklärte er: „Setz dich irgendwo drauf und fahre deinen Körper runter. Das heißt atme langsam und befreie deinen Kopf von Gedanken. Dann wirst du wieder zum Menschen.“ Ich ließ mich neben ihm nieder und versuchte es, doch durch seine Nähe war es nicht gerade einfach. Immer wenn ich es geschafft hatte, langsamer zu atmen und mich den Gedanken zuwenden wollte, dachte ich an Cielo und atmete automatisch schneller. Es war zum verzweifeln. Irgendwann saß ich aber trotzdem erschöpft neben ihm, als Mensch. „Na, hast du es geschafft?“, fragte er mich und hätte er sich nicht zusammengerissen, hätte er bestimmt gegrinst. „Ja, aber du warst nicht gerade hilfreich“, erwiderte ich leicht angesäuert, um mir kurz danach in Gedanken eine Ohrfeige zu geben. Wie konnte ich nur so dumm sein, so etwas zu sagen! Er sah mich mit hochgezogener Augenbraue an. Eine Weile saßen wir schweigend da, bis Cielo mir in die Augen sah und fragte: „Wusstest du, dass du wunderschön bist?“ „Nein“, sagte ich. Mein Mund war trocken, ich konnte kaum sprechen, während ich immer tiefer in seinen Augen versank. „Das bist du aber“, flüsterte er leise und strich mir eine Strähne aus dem Gesicht. Sein Gesicht näherte sich meinem und jetzt wusste ich endlich, ich hatte mich nicht verknallt, ich hatte mich verliebt. Und dann trafen seine Lippen auf meine und Cielo küsste mich zärtlich.