Ein Blick wiegt mehr als tausend Worte -

Ein Blick wiegt mehr als tausend Worte

Mit hastigen Schritten hatte ich mich durch die dichte Menge auf der Tanzfläche gedrängt und war schließlich durch die offenstehende Terrassentür gestürmt, wobei ich stets darauf geachtet hatte, dass mein Kleidchen verdeckte, was es zu verdecken gab. Ich habe schon bei mehreren Mädchen, die einen solchen Fummel trugen, wie ich ihn hatte, gesehen, dass ihnen mitten auf der Tanzfläche das Kleid hochrutschte und ihren Allerwertesten offenbarte. Dieses Schicksal wollte ich mir lieber ersparen ... Draußen fand ich, wie erwartet, Jessica. Doch sie war nicht allein. Sie stand in der schwach beleuchteten Ecke des Gartens umringt von einer kleinen Gruppe, die aus wenigen Leuten bestand. Ihr neuer Freund Jason, der mit etwas besorgter Miene der Auseinandersetzung beiwohnte, Kim, Lukas’ neue Freundin, und er, mit der hübschen Blondine an seiner Seite. Diana sah echt sexy aus. Das knappe, eng anliegende Kleid betonte ihre ausgeprägten Kurven und ihr Gesicht war einfach makellos. Ich sah, wie ihre Hand leicht zitterte und sie sich etwas hilflos umsah. Ich verstand sie nicht. Sie stand neben dem Traummann der ganzen Schule und wusste diese Tatsache einfach nicht zu schätzen. Bedauernswert. Aber in dem Moment hatte ich eine größere Sorge. Gegenüber von Jess stand, mit vor der Brust verschränkten Armen, Lukas höchstpersönlich und blickte meine Freundin grimmig an. Seine Brust hob und senkte sich unregelmäßig und seine Augen schienen wie Schatten, in die kein Licht gelangte. Seine ganze Körperhaltung war abweisend und er schien wütend. Sehr wütend. „Jessica Schneider!“, fauchte er. „Du hast keinen Grund, mich zu beleidigen!“ „Hab ich nicht!?“ Jess’ Stimme ging mehrere Oktaven nach oben. „Nein, denn es ist ganz und gar meine Entscheidung, wenn ich nichts mehr mit dir zu tun haben will!“ Ich hörte Jason seufzen, dann drehte er sich um und ging zurück ins Haus. Ich konnte ihn nur zu gut verstehen. Es war bestimmt nicht schön zuzusehen, wie die eigene Freundin sich bei ihrem Ex über die Trennung beschwerte. „Es ist verdammt nochmal nicht nur deine Entscheidung, Lukas!“ Seinen Namen aus ihrem Mund zu hören, schien dem Jungen nicht zu behagen. Er sah sie leicht gequält, aber trotzdem entschlossen an. „Es war nicht nur deine, sondern unsere Beziehung, mein Lieber! Unsere, also auch meine!“ Meiner besten Freundin standen Tränen in den Augen. Ich war schockiert. Normalerweise bedeuteten ihr Jungs nicht sehr viel, sie wechselte sie einfach nach Lust und Laune und nie weinte sie ihnen eine Träne hinterher. Doch dieses Mal schien sie es wirklich ernst gemeint zu haben ... und sie hatte den Schluss nicht überwunden, so wie sie es Lizzie vorgespielt hatte. Selbst Jason war nur ein Mittel zum Zweck. Auch Lukas sah leicht entsetzt zu, wie die Tränen ihr über die Wangen flossen. Zögernd ging er auf meine Freundin zu, doch diese wich zurück. Jess drehte sich um und rannte, so schnell es mit ihren Absätzen ging, ins Haus. „Jess!“ Lukas lief aufgeregt und mit leicht gerötetem Gesicht hinter ihr her, hatte aber trotzdem Mühe, sie einzuholen. Ich rannte hinterher und achtete nicht mehr auf IHN, genauso wenig wie auf Diana. Trotz der Blicke, die ich im Rücken spüren konnte, drehte ich mich nicht um. Jess war wichtiger – außerdem wollte ich wissen, wie es ausging. „Jessica“, erklang die laute Stimme von Jess’ Ex und ich erblickte sowohl ihn, als auch meine Freundin am Buffet. Er hatte sich ihr genähert und streckte nun ruckartig die Hand aus, um sie am Arm zu packen. Sie wich aus und stieß mit dem Rücken gegen den Tisch. „Fass mich nicht an!“, schrie Jess und sah ihn mit einem Blick an, bei dem ich schon längst die Flucht ergriffen hätte. Doch Lukas ging nur weiter auf sie zu und ich glaubte, einen Anflug von Angst in Jessicas Gesicht zu sehen. Doch dieser verschwand rasch wieder. „Jess, ich ... ich wollte es ja nicht. Nicht wirklich jedenfalls ...“ Lukas hob verzweifelt die Hände und rang nach Worten, um ihr klarzumachen, was er dachte. Doch Jess dachte gar nicht daran, ihn ausreden zu lassen. Sie griff hinter sich und tastete mit der Hand nach einem gefüllten Glas, in dem irgendeine braune Flüssigkeit schwappte. Sie umklammerte das Gefäß und warf es mit einem Ruck nach vorne. Lukas schrie auf und stolperte nach hinten. Das Glas verfehlte ihn nur knapp und zersplitterte an der Wand gegenüber. Einige Gäste schauten neugierig herüber und die tanzende Meute verlangsamte ihre Schritte. Der Junge rappelte sich vom Boden auf und schaute seine Ex-Freundin entsetzt an. „Das hätte ich nun ehrlich nicht gedacht“, meinte er trocken zu ihr. Jess begegnete seinem Blick ungerührt. Dann sah sie auch zu mir und in ihren Augen stand ein stummer Vorwurf, dass ich nicht mehr für sie tat, als hier zu sein. Dabei war es ihr Kampf, den sie auszufechten hatte. Da nahm Jessica ein weiteres Glas in die Hand, holte aus und wandte dabei den Blick nicht von meinen Augen. Das Wurfgeschoss zersplitterte nur Zentimeter vor meinen Füßen. Mein Kopf schnellte hoch und Entsetzen erfüllte mein Innerstes. „Du bist die schrecklichste Freundin, die es nur geben kann!“ Jess’ Stimme erfüllte den Raum, während ich mich fragte, wieso ich es nicht kommen gesehen hatte. In so einer Situation war es klar, dass meine Freundin Panik bekam. Wenn sie nicht bekam, was sie wollte, musste sie immer einen anderen dafür verantwortlich machen. Doch das Schlimmste an dieser Eigenschaft von Jess war, dass sie es schaffte, dem Opfer das Gefühl zu geben, ein völliger Versager zu sein, und dass alles, was sie sagte, auch wirklich zutraf. „Aber ...“, unternahm ich einen schwachen Versuch, mich zu verteidigen, doch auch, wenn ich um Jessicas Schwäche wusste, fühlte ich mich schuldig. Ich hätte ihr helfen sollen, ich hätte sie gegen Lukas unterstützen, ich hätte ihr besser zuhören sollen, als sie von ihm geredet hatte, ich hätte verstehen sollen ... „Nichts aber! Du bist wirklich das Letzte! Eigentlich hätte ich mehr von dir erwartet, Joy. Lässt du alle so im Stich wie mich? Und nun tust du auch so überrascht, als ob du nie etwas davon gewusst hättest. Nicht gewusst hättest, wie ich mich fühle! Ich erzähle euch immer alles, und doch ist es immer dasselbe Gefühl, das ich dabei in mir trage: Das Gefühl, als ob man gegen eine dichte Wand redet, und das Gefühl, dass keiner mich versteht. Nicht einmal du, nicht einmal Lizzie. Und ich muss wirklich sagen, ich bin enttäuscht.“ Beschämt ließ ich meinen Blick sinken, starrte zu Boden und spürte mehrere Paare Augen auf mir ruhen. Die Leute fanden es immer unterhaltsam, wenn einer unter jemandem leiden musste. Und ich hasste Jess in diesem Moment. Ich hasste es, was sie mir antat. Es war gemein, unverantwortlich und demütigend. Doch sie schien es nicht zu begreifen. Für sie war es richtig. Und für das, was sie gesagt hatte, hasste ich auch mich. Mit Tränen in den Augen drehte ich mich um und rannte durch den Raum. Meine Augen starr auf dem Boden gerichtet, um niemanden ansehen zu brauchen, schweiften meine Gedanken um die rettende Terrassentür, durch die ich kommen wollte. Ich wollte hier weg. Unbewusst nahm ich noch das Klirren hinter mir wahr und ich wusste, dass Jess die Hälfte des Buffets auf den Boden geschmissen hatte, aus den Augenwinkeln sah ich Lukas, der starr zu Jessica sah und augenscheinlich nicht begreifen wollte, was hier geschah, ich sah belustigte Zuschauer, sich befummelnde Pärchen ... und ich spürte noch einen anderen Blick auf mir ruhen. Einen beunruhigten Blick aus tiefen, braunen Augen und ich wünschte, ich könnte im Boden versinken. Dass er alles mit angesehen hatte, war einfach zu viel ... Der Terrassentür fiel hinter mir zu ...