Die Wahrheit -

Die Wahrheit

Ich kauerte mit angezogenen Knien auf dem kalten Stein, der den kleinen Teich in Anns Garten säumte. Tränen liefen mir in Strömen über’s Gesicht, hinterließen feuchte Spuren auf meinen Wangen, und mein ganzer Körper zitterte unter meinem Schluchzen. Mir ging es elend und mein Umfeld verschwamm hinter den dichten Tränenschleiern. Meine leise Stimme war das Einzige, was die sonstige Stille durchbrach. Ich war im Garten allein, allein in der Dunkelheit und das einzige Wort, das mir über die Lippen kam, war „wieso“. Und dann hörte ich es. Schwere Schritte kamen auf mich zu, obwohl ich sehr wohl bemerkte, dass diese Person versuchte, mich nicht zu beunruhigen. Dann sank ein schwerer Körper neben mir auf den Stein und ich zwang mich, den Kopf zu heben ... und erstarrte. Selbst mein Schluchzen verklang, als ich in das mir so bekannte Gesicht blickte. „Wie geht es dir?“, erklang seine vorsichtige Stimme und seine Hand fuhr ihm mit einer unbeholfenen Bewegung durch das Haar, sodass ihm einige unkontrollierte blonde Strähnen ins Gesicht fielen. „Scheiße.“ „Das kann ich verstehen ...“ „Das bezweifle ich.“ Obwohl ich diese Situation so oft herbeigesehnt hatte, wünschte ich mir, dass die Umstände anders wären. Es war einfach nicht richtig und ich konnte nicht anders, als meine Stimme kalt und spröde klingen zu lassen. Er rutschte unruhig hin und her und ich sah zu, wie sein Blick unaufhörlich durch den Garten schweifte. Es wurde langsam dunkel und Ann hatte die Terrassenbeleuchtung noch nicht angeschaltet, sodass die Finsternis uns langsam umhüllte. „Also ...“ Er schien nicht recht zu wissen, was er sagen sollte. Er verstummte wieder. „Wieso bist du hier?“, fragte ich schließlich zögernd. Ich verstand es einfach nicht. Er blickte mir direkt in die Augen und ich schien mich in den braunen Augen förmlich zu verlieren. Ich seufzte leise und spürte, wie ein leises Lächeln um meine Lippen spielte. „Wegen dir.“ „Wieso sollte es dich denn so sehr interessieren, was mit mir ist? Du kennst mich doch nicht einmal!“ Der Vorwurf war schwer zu überhören und auch er schien ihn zu bemerken. „Natürlich kenne ich dich! Ich kenne dich schon sehr lange ...“ Er riss die Augen auf und trotz der Dunkelheit konnte ich sehen, wie ihm eine leichte Röte in die Wangen stieg. „Tut mir leid.“ „Wieso entschuldigst du dich?“ Er sah mich lange an und er schien in meinen Augen zu lesen. Dann fing er an zu lächeln. Er hob zögernd eine Hand und strich mir über die Wange. Mein Atem stockte. „Weil es mir falsch vorkommt. Das, was ich fühle, sollte eigentlich nicht so sein. Du bist etwas Besonderes, aber es kommt mir trotzdem so falsch vor, als ob ich es gar nicht dürfte.“ „Ich weiß, was du meinst.“ Er zog die Augenbrauen hoch. „Ach ja?“ „Ja.“ Eine Weile schwiegen wir beide, hingen beide unseren eigenen Gedanken nach. „Deine Freundin war gemein“, meinte er schließlich zögernd, „deshalb bin ich eigentlich auch herausgekommen. Ich fand es ... nicht so toll, wie sie mit dir umgegangen ist. Ich weiß zwar nicht, was zwischen euch ist und wie die Dinge liegen, aber du sahst ... ziemlich geschockt aus.“ Er legte den Kopf schräg und blickte aus den Augenwinkeln zu mir herüber. Ich ließ die Schultern sinken. „Es ... ist etwas zwischen uns“, meinte ich abweisend. Ich musste ihm ja nicht gleich alles erzählen, ein Teil meines Lebens gehörte mir. „Natürlich“, meinte er und zögerte dann. „Joy, ich ...“ Ein Kribbeln breitete sich in meiner Bauchgegend aus und unwillkürlich wusste ich, was nun kommen würde. In meinem Kopf hörte ich schon die Worte, die ich von ihm erwartete, von denen ich dachte, dass er sie aussprechen würde ... doch er schwieg. Ich holte unwillkürlich Luft, hielt den Kopf aber gesenkt. „Was ist?“ Nach einem kurzem Moment der Stille sprach er wieder. „Joy, ich finde dich ... du bist mir schon länger aufgefallen ... Ich denke, dass ...“ „Was denkst du?“ Ich wusste, dass ich es ihm nicht unbedingt leichter machte, aber ich konnte nicht anders. In diesem Augenblick war ich total egoistisch und wollte, dass er es sagte. „Dass ich dich mag.“ Der Klang seiner Stimme ließ mir einen Schauer über den Rücken rieseln. Sie war weich, einfühlsam, und, was mich am meisten verwirrte, er klang ehrlich. Aber was war mit ... „Und Diana?“ Sein Kopf schnellte hoch und er sah mich mit einem so verwirrten Ausdruck an, dass ich mir wie die letzte Idiotin vorkam. „Diana?“ „Deine Freundin.“ „Meine ... was?!“ Und dann schien ihm ein Licht aufzugehen und er tat etwas, was ich nie erwartet hätte. Er lachte. Erst leise und dann ... „Hör auf!“ Meine Stimme klang so schrill, dass ich selbst zusammenzuckte und auch meine Augen funkelten wütend. Er verstummte sofort und sah mich etwas erschrocken an. „Tut mir leid“, sagte ich nach einer Weile. „Aber es war nicht witzig.“ Er sah mich eine Weile schweigend an. Dann grinste er frech und strich sich durch’s Haar. „Sie ist meine beste Freundin. Ich glaube, du hast dich da ein wenig in etwas reingeritten.“ Mir klappte der Mund auf. Heißt das, ich hab alles, was ich in der letzten Woche, in den letzten Monaten gesehen hab, falsch interpretiert? Hab ich alles falsch verstanden? Wie konnte das sein? Es war doch alles so klar! Sogar Jess und Lizzie haben es gesehen ... oder? Vielleicht haben sie es gar nicht gesehen ... Was, wenn nur ich es so gesehen habe? Vielleicht waren all meine Sorgen unbegründet, oder er log! Und genau das sagte ich ihm ins Gesicht. „Wieso solltest du mich wollen?“ „Du bist ...“, er rang die Hände und suchte verzweifelt nach dem passenden Wort, während ich ihn nur schweigend anschaute, und mich fragte, ob ich mich freuen sollte oder eher Misstrauen angebracht wäre, „... anders.“ Anders? War das gut oder schlecht? Ich wusste es nicht ... „Joy, du bist etwas Besonderes!“ Nun schien er sich wieder sicher zu sein. Sein fester Ton und sein ernster Blick ließen mich erschauern. Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Ich wusste selbst nicht genau, was, aber ich war mir sicher, dass ich die richtigen Worte finden würde, so wie es meistens auch war. Doch bevor ich irgendetwas sagen konnte, beugte er sich vor und streifte mit seinen Lippen meine, nur eine flüchtige, sanfte Berührung, aber es war genug, um mich in einen Schockzustand zu versetzen. Er zog sich kurz zurück und blickte in meine Augen. Was er sah, schien ihm mehr zu sagen, als mir lieb war, aber, um ehrlich zu sein, ich hatte nichts dagegen. Und dann beugte er sich wieder vor, fasste mich mit der Hand im Nacken und zog mich zu ihm heran. Sein Mund presste sich auf meinen, seine Hände strichen über meinen Rücken und statt Verwirrung befiel mich diesmal ein starkes Gefühl des Glücks ... und Begehren. Ich rückte noch näher zu ihm heran und umfasste mit meinen Händen sein Gesicht, strich ihm durch die blonden Haare und hörte, wie er leise meinen Namen murmelte ... „Joy.“