Kapitel 5 -
Nach einer Weile stand ich benommen wieder auf. Ich wusste nicht wie lange ich auf dem Stein gesessen hatte, es kam mir vor wie mehrere Stunden. ‚Was soll’s‘, dachte ich mir, ‚wenn ich einmal unterwegs bin, kann ich gleich weiter suchen‘. Ich versuchte ganz ruhig zu werden und mir eine Karte vor Augen zu erschaffen. Das gelang mir auch besser als ich dachte. Demnach war ich immer geradeaus gegangen. Links hinter mir müsste der Wald sein und vor mir war der Bärenkopf, der höchste der hier zu findenden Hügel. Was rechts war, wusste ich nicht, in der Gegend war ich noch nie gewesen. Daher hielt ich mich jetzt links, nahm kleine Pfade, ging auch mal quer über ein Feld, wenn ich keinen anderen Weg sah. Dabei dachte ich weiter nach, über mich, über Robin, über die Welt. Ich wollte zu ihm, doch wusste ich nicht, wie ich mich bei ihm verhalten sollte, wo ich mir doch nun über meinen Gefühlen im Klaren war. Und irgendwas anderes Seltsames lag in der Luft, abgesehen von der Tatsache, dass ich mich zum ersten Mal verliebt hatte. Was war so anders an ihm? Ich hatte wieder den Wald erreicht, der Pfad schlängelte sich durch die alten, knorrigen Bäume. Es war ein anderer Wald als den ich kannte, er war älter, größer und mächtiger, das spürte ich sofort. Am Wegesrand wuchsen Pilze, die ich noch nie gesehen hatte, Vögel zirpten laut im Chor. Ich hörte Männerstimmen, die sich einander was zu riefen und einen Bach, der leise vor sich hin plätscherte. Stopp! Männerstimmen? Ich blieb stehen und lauschte. Es waren definitiv zwei Männer in der Nähe, aber ich konnte nicht verstehen, was sie riefen. Sie schienen aufgeregt zu sein und die eine Stimme klang jünger als die andere. Alarmglocken klingelten leise in meinen Kopf. Tief im Wald sollte man keinen Fremden begegnen, erst recht nicht wenn man jung und allein war. Trotzdem wollte ich wissen, wer das war, darum schlich ich den Stimmen entgegen. Plötzlich waren die Stimmen neben mir. Erschrocken fuhr ich zusammen. Zwei Personen standen mit dem Rücken zu mir über den Boden gebeugt, wie die Detektive im Fernsehen. Der eine Mann war geschätzte vierzig, hatte eine Halbglatze die von dunkelbraunen Haaren umringt wurde und war groß und leicht rund in der Bauchgegend, es war der Mann, den ich letztens am Bus gesehen hatte. Der andere war jünger, hatte dunkelbraunes Haar - war das etwa Robin? Ich wollte mich gerade bemerkbar machen, da drehte er sich rum. In einem Bruchteil der Sekunde bemerkte ich meinen Irrtum und duckte mich hinter einem großen Stein. „War da was, Dad?“, fragte der junge Mann misstrauisch den Älteren. Den ich zuerst für Robin gehalten hatte, war in Wirklichkeit viel älter, vielleicht neunzehn, und hatte eine schiefe Brille auf der Nase. Der andere Mann, scheinbar sein Vater, drehte sich nun auch um und ließ seinen Blick gespannt über die Büsche gleiten. „Ich habe nichts gehört. Aber wir müssen vorsichtig sein. Wenn er uns von hinten angreift, haben wir ein Problem.“ Der Mann hatte eine warme, freundliche Stimme. Aber wovon sprach er? „Ich glaube nicht, dass er hier ist. Der wäre hier schon längst aufgefallen.“ Das war der Jüngere. Ich hatte das blöde Gefühl, dass das hier nicht für meine Ohren bestimmt war. Jetzt sprach der Ältere: „Denke daran, der Muggel ist zwar woanders verschwunden, wurde aber hier in der Nähe gefunden. Wir müssen gründlich sein.“ Ich verstand kein Wort. Was war ein Muggel? Ich kam zu dem Entschluss, dass es sich bei den Männern um Förster handeln musste, die einen aggressiven Fuchs oder was auch immer jagten. Hörte sich dumm an, war aber vorstellbar. Dennoch wollte ich mich den Jägern nicht zeigen und schlich geduckt rückwärts davon. Als ich mich einige Schritte entfernt hatte, drehte ich mich um und rannte los. Erst als ich den Weg wieder gefunden und diesem eine Weile gefolgt war, wurde ich ruhiger und ging langsamer. Doch leider hatte ich die Orientierung verloren. Weder wusste ich wo ich war, noch in welche Richtung ich mich halten sollte. Der Weg hatte sich mehrmals abgezweigt und die Wahrscheinlichkeit, dass ich den richtigen wieder zurück nahm, war so gering, wie dass meine Tante mir gezuckertes Müsli kaufen würde. Und dass war sehr unwahrscheinlich. Ich kam mir plötzlich sehr klein und unbedeutend vor. Es störte mich nicht, dass die kleine Ameise über meinen Schuh krabbelte. Die Bäume schienen über mich zu lachen und die Sonne strahlte mir mitten ins Gesicht. Ein Eichhörnchen gab einen Laut von sich, der sich sehr provozierend anhörte, und ich kam mir verlassen vor wie ein Wassertropfen im Meer. Nur dass ich, im Vergleich zum Wassertropfen, jetzt gerne unter meines gleichen wär. Ich wäre gerne bei ihm. Er hatte mich bis jetzt immer zufällig gerettet, doch heute schien meine Glückssträhne verloren zu sein. Ich ließ mich auf den harten Moosboden sinken und schluchzte. Mein Handy lag glücklich zu Hause auf dem Nachttisch. Heute hasste ich meinen sonst so geliebten Wald. Doch plötzlich fuhr ich hoch. Zwischen den Büschen war ein seltsames Flimmern gewesen. Irgendetwas hatte rötlich durch die Blätter geblitzt. Wie in Trance stand ich auf, wandelte wie im Schlaf zu den Büschen und bog die kleinen Äste zu Seite. Vor mir war eine kleine Lichtung, aber nicht die von gestern, und in der Mitte lag etwas. Es war rot und riesig, wie ein Hügel, glitzerte und strahlte wie Schmuck. Zunächst dachte ich auch, es wäre ein riesiger Schmuckhaufen. Doch zu meinem Schrecken bewegte sich dieser. Ein Zucken ging durch den Hügel und zwei große, schwarze Augen starrten mich an. Auf der Stelle erkannte ich das Bild, das sich vor mir bot. Von dem Haufen ging ein langer, stacheliger Schwanz ab und auf der anderen Seite war ein genauso stacheliger Hals, auf dessen großen Kopf, über dem gefährlichen Maul, die Augen waren. Und sie starrten mich geradewegs an.