Die Magie der Heiligen Nacht -
Lena Kasimir sitzt in ihrem alten, verschlissenen Lehnstuhl und schaut aus dem Fenster. Ihr ist kalt, denn das Feuer im Ofen ist heruntergebrannt und niemand ist da, der Holz nachlegt. Allerdings würde man auch kaum welches im Schuppen finden, denn es liegen nur noch einige wenige Scheite herum. Fröstelnd zieht sie die dünne Wolldecke enger um ihren hageren Körper und versucht, die klammen Finger aufzuwärmen, indem sie sie aneinander reibt. Die alte Frau lebt schon lange allein in ihrer Hütte am Waldrand, die auch schon bessere Tage gesehen hat. Das Dach ist undicht und der kalte Wind pfeift durch die Fensterritzen. Die alte Hütte ächzt unter der Schneelast und es ist ein Wunder, dass das Dach dem noch standhält. An den Scheiben haben sich Eisblumen gebildet, die den Blick nach draußen erschweren. Trotzdem liebt Lena diese Blumen, denn ihr wird deutlich, wie einfallsreich und wunderschön die Natur sein kann. Sie blickt auf die große Tanne, die sich unter dem Schnee beugt und deren großen Zweige bis fast auf die Erde ragen. „Du und ich, wir haben in unserem Leben viel gesehen und erlebt“, denkt sie und ihre Gedanken schweifen zurück in die Zeit, in der sie noch glücklich war. Es ist schon fast 50 Jahre her, als sie mit ihrem Mann Klaus zusammen diese Hütte baute und sich auf ein Leben in und mit der Natur freute. Als Andenken an ihren Einzug pflanzten sie die Tanne, die heute so majestätisch in den Himmel ragt. Im Laufe der Jahre bekamen sie ihren Sohn Josef, der ihnen viel Freude machte und zu einem fröhlichen, liebenswerten Menschen heranwuchs. Nichts schien ihr Glück trüben zu können, bis eines Tages das Unheil geschah. Klaus befand sich mit Josef im Wald, um dort Holz für den Ofen zu schlagen. Außerdem sollten noch einige Bäume abgeholzt werden, die den Setzlingen das Licht nahmen. Wie das Unglück genau geschah, wurde nie geklärt. Zwei Waldarbeiter kamen zu ihr und erzählten, dass Klaus von einem umfallenden Baum erschlagen und Josef tödlich von einem großen Ast getroffen wurde, als er seinem Vater helfen wollte. Als Lena diese Nachricht erhielt, glaubte sie, nicht weiterleben zu können. Aber wer sollte dann die Ziege und die Hühner versorgen? Zu den Bewohnern des naheliegenden Dorfes hatte sie kaum Kontakt, weil sie in ihrer kleinen Welt glücklich war und andere Menschen nicht vermisste. Lena hat diesen Schicksalsschlag nie richtig verarbeitet. Seither verläuft ihr Leben einsam und eintönig und sie lässt sich treiben. Ihr Dasein hat mit dem Verlust ihrer Lieben seinen Sinn verloren. Die alte Frau wischt mit der Hand ein paar Tränen ab, die über ihre eingefallenen Wangen laufen. Heute ist „Heilig Abend“ und ihr wird bewusst, wie allein sie ist. Ihr Lebenswille ist erloschen und sie möchte nur noch ausruhen. „Endlich Frieden finden“, denkt sie und schaut in den Abendhimmel. Der Mond scheint hell und klar und tröstet sie ein wenig. Die glitzernden Sterne scheinen ihr ebenfalls Trost zu spenden und mit einem tiefen Seufzer schließt sie die Augen. Vor ihrem inneren Auge sieht sie ein helles Licht auf sich zukommen und eine leise Stimme sagt: „Lena, es ist gut. Komm nach Hause“. Ja, es ist genug und mit einem Lächeln auf dem Gesicht schläft Lena ein. Die Magie der Heiligen Nacht hat sie eingehüllt und ihr den Frieden gebracht.