5. Melian verschwindet - -
 Sie wollten schon losgehen, als Chiris noch vorschlug, doch vielleicht etwas Essbares und Kleidung mitzunehmen, man wisse ja nie. So gingen sie zu viert los in den Wald, denn Melians Aussage nach war er bei der Höhle, in der die Mädchen Schutz vor dem Sturm gesucht hatten, in die Welt eingetreten. Der Wald sah immer noch genauso verwüstet aus, wie vor einem Tag und es war verwunderlich, dass die Waldarbeiter noch nichts gemerkt hatten. Auf ihrem Weg zur Höhle begegneten sie einem der Arbeiter und er stand nur teilnahmslos in der Gegend herum und starrte minutenlang auf ein und denselben Baumstamm. Schnell gingen sie weiter, denn dieser Anblick hatte etwas Gruseliges. Schwer war der Weg und nicht leicht durch die umgefallenen Bäume zu finden. Alina rutschte auf einem besonders schlammigen Untergrund aus und fiel hin. Sie wischte sich schimpfend den Matsch vom Gesicht. Als sie einigermaßen wieder in Ordnung war, konnten sie weiter gehen. Nach etwa vier Wegstunden sahen sie die Höhle von Weitem. Es sah alles noch genauso aus wie vorher. Sie machten erst einmal eine kleine Pause, denn der Weg war beschwerlich gewesen. Nach einem kleinen Schluck aus einer Quelle, die gleich in der Nähe war, wandten sie sich der Höhle zu. Als ihr neuer Freund gerade etwas sagen wollte, wunderten sich alle, wie dünn seine Stimme plötzlich klang und sie sahen sich ihren Freund näher an. Seine Konturen verschwammen. Verblüfft starrten alle zu Melian hin und dieser sah an sich hinunter und geriet in Panik. Das war ihm wohl auch noch nie untergekommen. Die Mädchen brauchten ihn doch zu überschreiten der Weltengrenzen. Einer plötzlichen Eingebung folgend gab Chiris den anderen barsche Befehle. „Rasch, stellt euch um Melian und fragt jetzt nicht, sonst verschwindet er“, sprach sie. Zu ihrer Verwunderung taten die beiden es auch ohne die Frage zu stellen, warum. So standen sie im Kreis, sich an den Händen haltend um Melian herum und kniffen konzentriert die Augen zu. Nur langsam wurde er wieder greifbarer und bald stand er wie vorher vor ihnen. Dankbar nickte er den Mädchen zu und bekam große Augen, als er sich gerade Chiris zugewandt hatte. Was sie währenddessen nicht bemerkt hatten, war, dass sich eine schimmernde Tür am Eingang zur Höhle gebildet hatte. Auf dieser Tür stand in verschnörkelten Buchstaben das Wort "Idee". Warum sie dort auftauchte, das wusste noch keiner, aber das sollte sich gleich klären. „Wie bist du darauf gekommen?“, fragte Melian, „Ich meine, das mit dem Kreis um mich herum.“ „Na ja, ich dachte an ein Buch, in dem es ähnlich zuging wie hier, und da habe ich überlegt, vielleicht geht es hier auch“, sprach nach kurzem Zögern Chiris, „es war nur so eine Idee und ...“ „Nur so eine Idee?“, rief Melian ungläubig, „Chiris, das war der Schlüssel. Deine IDEE war der Schlüssel. Nun können wir die Weltengrenze überschreiten. Für mich ist es ein Einfaches diese Welten und deren Grenzen zu überschreiten, doch Magiefremde müssen einen Schlüssel dazu verwenden. Dieser Schlüssel wird durch Taten aktiviert.“ Melian schien sehr aufgeregt zu sein, „neun Tage sind keine Ewigkeit, müsst ihr wissen.“ „Das heißt, dass schon ein Tag weggefallen ist seit gestern?“, wandte sich Alina fragend an Melian. „Natürlich. Ihr müsst immer auf die Zeit achten, sonst ist sie bald vorbei.“ Melian berührte vorsichtig die Tür und sie schwang leise auf. Dahinter war nichts zu sehen als eine dunkle wabernde Masse, die misstrauisch beäugt wurde, aber von Melian, wie ein guter alter Freund begrüßt wurde. Ihre Herzen schlugen vor Aufregung sehr schnell. Nacheinander, allen voran Melian, gingen sie durch die Tür. Auf der anderen Seite wurde es mit einem Schlag kalt. Es war Winter und vom Himmel fielen Aberhundert Schneeflocken. War es doch gut, dass Alina an die zusätzliche Kleidung gedacht hatte, denn nun froren sie nicht so sehr. Dick eingepackt machten sich die Vier auf den Weg durch die unbekannte weiße Wildnis. Kalter Wind schlug ihnen um die Ohren. Tief sanken sie in den Schnee ein. Als sie schon dachten, sie kämen nirgends mehr an, sahen sie von Weitem ein Licht, und als sie näher herangingen, erkannten sie, dass das Licht von einem Haus kam, aus dessen Schornstein sich eine feine Rauchfahne kräuselte. „Das sieht aus wie in einem Märchen“, dachte Alina laut. Sie klopfte an die Tür. Nichts regte sich und sie dachten, es wäre keiner zu Hause. Alina drehte sich herum zu ihren Freunden und sah sie ratlos an. Plötzlich knarrte hinter ihr die Tür und alle zuckten erschrocken zusammen. Heraus schaute eine alte Frau. „Ach bitte, hättet ihr einen Platz für uns zum Übernachten? Der Schneesturm wird immer schlimmer und uns ist bitterkalt.“ „Ihr Armen“, sprach das alte Großmütterchen mitleidig. Ihre Stimme klang so alt wie eine vertrocknete Eiche im Wind, doch sie hatte etwas Freundliches an sich. Unsere Freunde fassten schnell Zutrauen zu ihr. „Kommt nur herein. Hier drinnen ist es warm und gemütlich.“ Sie trat beiseite und ließ sie herein. Wie gemütlich es war in dem kleinen Raum. Das Feuer im Kamin loderte gemütlich und verbreitete einen angenehmen Schein. Sie bekamen Decken und eine Tasse heiße Suppe und das Großmütterchen hieß sie, sich vor den Kamin zu setzten. Langsam wurde es ihnen bis in die Fußspitzen warm. Ihre kalten Gesichter bekamen wieder ihre rosige Farbe und die Fingerspitzen prickelten angenehm warm. Geschäftig werkelte die alte Frau in der Küche herum und kam mit einem Korb voll Brot zu ihnen zurück. Jeder der Vier durfte in den Korb greifen, einen Kanten Brot zur Suppe nehmen. Das Brot war noch wunderbar warm und roch, wie nur frischgebackenes Brot riechen konnte. Viel wurde an diesem Abend nicht mehr erzählt. Das Großmütterchen fragte nicht, woher sie kamen und wohin sie gehen wollten und so hatten sie alle Zeit genug ihren eigenen Gedanken nachzugehen. Später halfen sie ihr, in ihrem Wohnzimmer zusätzliche Lager aufzubauen. Dazu wurde nur Stroh übereinander geschichtet und ein sauberes Leinentuch gezogen. Als sie fertig waren, wünschte ihnen das Großmütterchen eine gute Nacht und ging dann schlafen. Alle schliefen schnell ein, außer Robin. Sie lag noch lange wach und dachte über das nach, was in den letzten 72 Stunden alles geschehen war. Ihr kam das alles wie ein Traum vor, doch war sie hier, hier in der Hütte dieser alten Frau und ihre Freundinnen und ihr neu gewonnener Freund Melian lagen neben ihr und schliefen ruhig. Irgendwann zog es sie aber dann doch in das Reich der Träume.