11. Der letzte Raum - -
 Huuiihh. Sie wurden von einem stürmischen Wind erfasst. Sie konnten sich gerade noch so an den Händen packen, dann zog es sie ganz durch die Tür. „Hilfe, wo sind wir?“, rief Robin ängstlich. Sie wirbelten immer schneller. Immer schneller ging es im Kreis herum, bis plötzlich der Wind abrupt nachließ und sie auf den Boden fielen. Alle richteten sich unter Schmerzen auf. Sie waren in einem dunklen Raum, der nur spärlich von ein paar Fackeln erhellt wurde. Er war kreisrund und an der Wand befanden sich sieben Türen. „Hahahahahahahahahahahahahaha. Willkommen in meinem Reich.“ „Wer ist da?“, rief Chiris mutig. „Erkennt ihr mich nicht mehr?“, rief die Stimme erstaunt. „Oh nein, ich weiß, wo wir sind“, rief Melian zornig aber auch verzweifelt. „Ja, Melian, du kennst mich und meine Stimme, nicht wahr?“ „Wie könnte ich dich je vergessen?“ „Melian, jetzt sag bitte nicht, dass das Hurin ist?!“ „Ja, er ist es.“ „Willkommen, ihr Mädchen aus der fantasielosen Welt! Ich habe euch schon erwartet. Aber wollen wir uns nicht einander vorstellen? Ich bin Hurin, der Geist des Vergessens und Unverständnisses. Der Geist der Mutlosigkeit und der Ideenarmut. Kurz und gut, ich bin der, der das genaue Gegenteil von dem ist, was ihr sucht.“ „Melian, sag, dass das nicht wahr ist“, flehte ihn Alina an. „Natürlich ist es wahr und Melian wusste auch, dass eine der Welten, die ihr durchschreiten würdet, diese sein würde. Nicht wahr? Hahahahaha.“ „Melian, wie meint er das?“ Eine kurze Pause entstand. „Es ist wahr“, sagte Melian mit gesenktem Kopf, „ich wusste, dass ihr hier irgendwann landen würdet, doch ich wusste nicht, wie ihr reagieren würdet, nachdem ich bei euch aufgetaucht war. Ich machte mir Sorgen darüber, ob ihr dieses Wagnis überhaupt eingehen würdet, wenn ich euch alles sage und ob ihr die andern Aufgaben genauso meistern würdet. Es tut mir leid, denn jetzt habe ich gemerkt, dass ihr auf keinen Fall davor zurückgeschreckt hättet, eure Stadt zu retten. Verzeiht, dass ich nicht an euch geglaubt habe.“ „Das glaube ich dir nicht, Melian“, sprach da Alina ernst. Melian sah sie traurig aber auch verblüfft an. „Was?“ „Ich glaube dir nicht, dass du die ganze Zeit nicht an uns geglaubt hast, denn warum hättest du Robin nicht Mut gemacht? Warum bist du dann bei Carola geblieben und uns nicht nachgelaufen? Warum bist du dann überhaupt zu uns gekommen? Weil du immer an uns geglaubt und darauf vertraut hast, dass wir es schaffen, und wir haben es geschafft“, sprach Alina stolz. „Doch sage uns diesmal, wie es weiter geht. Was müssen wir tun, damit wir an die Fantasie kommen?“, fragte Chiris. „Die Rätsel der Finsternis habt ihr zu lösen, sonst kommt keiner von euch hier weg.“ „Wir haben keine Angst. Wir werden es schaffen und alles wird gut werden!“, riefen alle drei Mädchen. „Doch diesmal ist es an Melian, die letzte Truhe der Fantasie zu finden.“ „Wie bitte?“ „Jede hat ihre Schuldigkeit getan und nun bist du dran, Melian. Wähle." Eine Tür bringt dich zurück, auch bei der Nächsten hast du kein Glück. Die Nächste zeigt, wie die Zeit vergeht und die Übernächste bringt dich nicht von hier weg. Die Folgende zeigt dir den Weg zum nächsten Raum und die letzte Tür wird, für dich, dunkel sein. Die Letzte, die den Weg dir zeigt, zur Fantasie. Melian, das schaffst du nie. „Ich wähle ...“ Melian sah sich die Türen der Reihe nach genau an. „Ich wähle die siebte Tür, denn die Sieben ist keine gute Zahl und ich kann mir denken, dass sie darum die Richtige war, denn wer nimmt denn schon eine Unglückszahl, wenn er das Glück zu finden sucht?“ Die Tür öffnete sich und auf einem kleinen Podest in der Mitte des Raums lag ein brauner Beutel. Und in ihm war der letzte Teil der Fantasie. „Melian, du hast es geschafft!“, riefen alle drei gleichzeitig. Eine kleine Tür zu ihrer Linken öffnete sich. „Weise hast du gewählt, doch nun wird es schwerer. Geht nun in den nächsten Raum.“ Ein Wind erfasste sie und schleuderte sie durch die Tür in den nächsten Raum. „Wenn er uns noch einmal durch die Luft schleudert, kann er was erleben!“, schimpfte Alina ärgerlich. Hier nun seid ihr, mit viel Glück, in den nächsten Raum gerückt. Rätsel-Raum nennt man ihn hier, doch an diesen Rätseln verzweifelt ihr. Jedem von euch ich stelle ein Rätsel. Findet die Lösung und ihr kommt weiter. Doch geht nur einer von euch fehl, so werden alle scheitern und auf ewig hier verweilen. „Wir sind bereit, stelle uns die Aufgabe.“ „Also, hier ist das erste Rätsel:“ Ich bin mal rund, mal bin ich ein Schleier! Mal grau und auch mal weiß! Mich durchfliegt so mancher Reiher! Nur Gott weiß, wie ich heiß! „Dieses Rätsel übernehme ich“, sagte Alina und trat lächelnd vor, „denn damit kenne ich mich aus. Immer sehe ich sie und stelle mir vor, welche Gestalt sie wohl als Nächstes annehmen mag. Die Wolke ist es, da bin ich mir sicher. Denn ich habe auch in dem Brunnen, im Schlossgarten, die Wolken im Wasser sich spiegeln gesehen. Die Antwort ist: eine Wolke.“ Ein Donnergroll erfüllte die Luft. „Die erste Antwort, die war richtig. Nun können nur noch drei von euch antworten. Hier kommt das nächste Rätsel:“ Es gibt im Leben meist zwei Seiten der Medaille! Wir sind dort zu finden, wo der Verstand uns Trugbilder vorgaukelt. Kleine Kinder fürchten uns, da wir die Kreaturen der Nacht bergen. Doch schaltest du den Hoffnungsstrahl an, so verstecken wir uns, doch sind wir noch da. Stille trat ein, denn jeder für sich überlegte, was es denn sein könnte. Chiris sah sich um, in der Hoffnung, irgendeinen Hinweis zu erhalten. Plötzlich stutzte sie, dann trat ein Lächeln in ihr Gesicht. „Diesmal werde ich antworten. Seltsam ist es, dass gerade ich auf die Lösung komme, aber es ist so. Jeden verfolgt er und keinen lässt er in Ruhe. Früher, wenn ich abends ins Bett ging, gab es eine Ecke, die ich von meinem Bett aus sehen konnte. Vor dieser Ecke hatte ich immer Angst, denn ich glaubte, Gestalten in ihr zu sehen. Aber es waren keine da, es war nur ein Schatten, vor dem ich Angst hatte. Die richtige Antwort lautet: der Schatten.“ Ganz sachte nur vibrierte die Erde eben noch unter ihren Füßen und kurz darauf nahm das Donnergrollen zu. „Die zweite Antwort, die war richtig“, kam es bösartig von Hurin. „Nun können nur noch zwei von euch die Antwort nennen. Nun hört mein drittes Rätsel und das wird nicht so einfach sein, wie die anderen zwei. Mein drittes Rätsel:“ Kommst du in den Raum, in dem wir unser verharren, so fühlst du dich so alt wie die Welt. Es ist wie im Theater, denn du kannst in jede Rolle schlüpfen, für die du dich entscheidest. Die Alten unter uns fasse mit Achtsamkeit an. Denn auch unsere Blätter werden welk. Wieder folgte eine kurze Stille. „Alles, was bis jetzt kam, hatte etwas mit Fantasie zu tun. Aus der Wolke kann man Fantasiebilder lesen, aus dem Schatten ebenfalls, aber ...“ Wieder wurde es still. „Was haben Menschen gemacht, was mit Fantasie zu tun hat? Ich glaube, ich weiß es. Das nächste Rätsel werde ich lösen“, sagte Melian geheimnisvoll. „Es sind die Bücher, die von den Menschen gemacht werden. Die Menschen bringen ihre Fantasie in die Bücher. Ich bin mir sicher, dass die richtige Antwort die „Bücher“ sind.“ „Und nun folgt das letzte Rätsel“, sagte Hurin nun wütend. „So höre denn, Robin Gaye.“ Unruhig sah Robin von Alina zu Chiris und weiter zu Melian. Alle machten ein aufmunterndes Gesicht. „Ich bin bereit“, sagte Robin entschlossen, mit dem Wissen, dass ihre Freunde hinter ihr standen. Köpfe rauchen Tag für Tag. Wie viele es von uns wohl geben mag? Die schlausten Köpfe stellen sich uns in den Weg, doch es mag unendlich viele geben. Denn langweilig wird ihnen nie! Manchmal ist unsere Hülle so zäh wie Gummi, manchmal so hart wie eine Nuss. Zu knacken sind wir irgendwann alle mal. Das war wahrlich das schwerste Rätsel von allen vier. Lange dauerte diesmal das Schweigen. Zu lange mochte man meinen. Robin setzte sich hin, ihr taten die Beine weh vom vielen Stehen. „Nun, wo bleibt deine Antwort? Von dir hängt es ab, ob ihr scheitert oder nicht. Gewinnen tu ich, so oder so, denn die Zeit läuft gegen euch.“ „Was könnte damit gemeint sein? Die Hülle so zäh wie Gummi? Oh, ich weiß die Antwort auf das Rätsel nicht“, rief sie aus, „moment mal, das ist es.“ Robin sprang auf. „Ich weiß die Antwort auf dein RÄTSEL nicht, weil die Antwort das Rätsel selbst ist“, rief Robin erleichtert aus. „Oh nein, wie hat sie das nur geschafft? Kein Mensch hat je alle meine Rätsel gelöst. Ihr habt gewonnen, nehmt das!“, und eine Schriftrolle fiel auf den Boden. Robin hob sie auf. Es krachte plötzlich. „Was passiert hier?“, rief Chiris verwirrt, „Wir haben es doch geschafft?“ „MELIAN!“, rief Alina plötzlich erschrocken. „Was passiert mit dir?“ Melian begann, sich aufzulösen. Auch der Kreis, den die Mädchen machten, half diesmal nicht. „Ihr müsst in eure Welt zurück und die Verse zur Herstellung der Fantasie aufsagen. Ich kann euch nun nicht mehr helfen, denn es liegt an euch, das Richtige zu tun. Es war schön mit euch zusammen zu sein. Lebt wohl!“, sagte er, schon kaum mehr hörbar, und verschwand. „Melian, MELIAN! Und wie kommen wir heim?“, rief Robin verzweifelt mit den Tränen kämpfend. Alles verschwamm plötzlich vor ihren Augen und löste sich auf. Bald war nur noch Finsternis um sie herum. Auf der Suche nach der Fantasie.