Shandris, Gryffindor zu Annele - 3. Platz
  Der Tag steht still … Der Tag steht still, wenn ich dich seh. Längst vergessene Gedanken greifen nach mir. halten mich fest und ziehen mich in den silbernen Schleier hinein, den man Erinnerung nennt. Ein schrilles Klingeln riss mich aus einem Traum. Langsam richtete ich mich auf und funkelte meinen Wecker böse an. „Ein Uhr nachts?! Ja, ist der denn von allen guten Geistern verlassen?“ Verschlafen tappte ich mit der Hand auf dem Nachttisch herum, um dem grässlichen Geschepper Einhalt zu gebieten. Da! Endlich hatte ich ihn doch. Dieses nervtötende Etwas war nicht so leicht zu fassen und den winzigen Knopf musste ich auch erst einmal finden. Wo ist er denn nun wieder? Unter dem Bett? Hätte er doch wenigstens mit dieser Bimmelei aufgehört, aber nein, er traktierte mich weiter, als ob er es regelrecht darauf anlegte. Dann bekam ich ihn endlich richtig zu fassen. Ich war mittlerweile so sauer auf dieses mechanische Ding, dass ich ihn ausschaltete und hinter mich warf, um wieder in mein Bett zu steigen. Hinter mir hörte ich im gleichen Moment ein sehr feucht klingendes Klatschen. „Auch das noch!“ Ein Punkt mehr auf meiner „To-do-Liste“. - Einen neuen Wecker kaufen. Wahrscheinlich hatte mein „Grindeloh in Pflege“ gerade den Schreck seines Lebens bekommen und knirschte nun erbost mit den Zähnen. Irgendwie hatte ich es wohl doch wieder in mein Bett geschafft und war gleich wieder eingeschlafen. Diesmal konnte mich wenigstens mein Wecker nicht stören. Im Ernst. Wer steht denn bitte auch an seinem 21. Geburtstag um ein Uhr morgens auf? Ich ganz sicher nicht. Eigenartige Träume verfolgten mich die Nacht über, aber was erzähl ich denn da?! Ich habe mich ja noch nicht einmal vorgestellt. Gestatten: Shandris Page. Ich bin 20 … bzw., nein halt! Ich bin ja nun 21 Jahre alt. Ich arbeite als Bibliothekarin in der berühmten Berliner Zauberschule „Château d’eau“. Wie ihr sicher herausgefunden habt, bin ich ein wahrer Morgenmuffel, wenn es ums Aufstehen geht. In der ersten halben Stunde nach dem „Wachwerden“ darf man mich nicht ansprechen, es sei denn, man möchte sich plötzlich in ein Schwein verwandelt sehen. Bibliothekarin war schon immer mein Traumberuf und dank den Bemühungen meines Onkels, habe ich es geschafft, eine solche zu werden. Meine Eltern kenne ich nicht und viel Geld zum Leben habe ich auch nicht. Um genau zu sein, bin ich ein sehr eigenbrötlerischer Mensch. Ich ziehe eine ganze Bibliothek Menschenmengen vor. Ich mag keine großen Gesellschaften. Ich liebe den Geruch von in Leder eingebundenen Büchern mehr, als den Geruch von Discos. Ist es da verwunderlich, dass ich am liebsten von Büchern träume? Nächte lang wandle ich durch die Reihen der Bibliothek, immer auf der Suche nach einem neuen Buch. Doch heute Nacht war es eigenartig. Ich träumte, dass ich wieder auf dem Weg zur Spandauer Zitadelle war, in der sich die Zauberschule befand. Mir war noch nicht einmal kalt, als ich die lange Brücke überquerte und eines der großen Tore der Festung öffnete. Wie immer bewunderte ich die schöne Form des Hofes. Von oben betrachtet sieht dieses Gebäude aus wie ein vierzackiger Stern und ich lief wie schon Hunderte Mal zuvor zum nicht für Muggel freigegebenen Teil. Seit 1738 werden junge Hexen und Magier in dieser Schule ausgebildet und die Bibliothek war schon immer das Herz dieses Gebäudes. So wurde sie von jedem dort arbeitenden Bibliothekaren gepflegt und ergänzt. Es hatte sich über die Jahrhunderte eine beachtliche Sammlung von vielen teils uralten, teils sehr wertvollen Büchern der magischen und auch der Muggelwelt aufgebaut. Da ich auch Führungen durch die heiligen Hallen der Bücher anbiete, kann ich diesen Text selbst im Schlaf aufsagen. Wie immer wandelte ich durch die vielen Gänge hin zu meinem persönlichen Heiligtum. Jemand hatte wohl eine Kerze brennen lassen, denn durch die Spalten der Tür schimmerte Licht. Neuer Eintrag in meine „To-do-Liste“: - Schild aufhängen, mit dem Hinweis Kerzen bei Verlassen der Bibliothek zu löschen! Als ich jedoch die schwere Eichentür aufschob, erlosch der Kerzenschein plötzlich und tauchte, als ich auf dem riesigen Stern mit den Himmelsrichtungen stehen blieb in einem der hinteren Büchereien (wo die besonders wertvollen Bücher standen) wieder auf. Wie einem inneren Zwang folgend, ging ich dem Licht hinterher, und immer, wenn ich ihm nahe war, erlosch es erneut, um weiter hinten dann wieder aufzutauchen. Es trieb seinen Schabernack mit mir. Ich sah an den hohen Regalen auf und merkte, dass ich bei den Tagebüchern gelandet war. Das Licht war nicht wieder verschwunden. Es schwebte direkt vor mir. Gerade als ich es fassen wollte, stieg es langsam hinauf und blieb oben bei den Büchern, die mit "S" begannen, stehen. Was ich brauchte, war wohl eine Leiter, und wie es im Traum oft üblich ist, erschien sie genau in diesem Moment neben mir. Ich stieg vorsichtig hinauf und klammerte mich an den Sprossen fest. Der kleine Lichtfunke war in einem Buchrücken verschwunden und das Buch schien sanft zu schimmern. Ich zog mich hinüber und wunderte mich, dass ausgerechnet auf diesem Buch kein Titel vermerkt war. Ich wollte es herausziehen. Ich musste es! Dieser Gedanke war so präsent und so drängend, dass ich im Bett hochschrak. Verwirrt sah ich mich in meinem Kellerzimmer um. Ich begriff erst nicht, was ich hier suchte. Ich wollte auf dem Wecker nachsehen, wie spät es war, doch er war weg. Dunkel erinnerte ich mich daran, dass ich ihn unfreiwillig getauft hatte. Ich schob meine zerschlissene Decke von mir weg und suchte nach meinen Strümpfen. Kein Wunder, dass meine Füße kalt waren. Ich hatte mir meine Wollsocken schon wieder im Schlaf ausgezogen, und wenn ich dann im Traum noch über den kühlen Steinfußboden der Zauberschule gelaufen war, brauchte ich mich nicht mehr zu wundern. Als ich sie anzog, merkte ich, dass mein rechter Zeh daraus hervorlugte. Na toll, wieder eine Socke, die gestopft werden musste. Ich hatte das Gefühl, meine Strümpfe bestanden nur noch aus den Flicken. Es war recht spät am Morgen und ich musste mich sputen, dass ich pünktlich zur Arbeit kam. Frau Prof. Argentinensis, die Schulleiterin von „Château d’eau“, sah es gar nicht gerne, wenn Mitarbeiter unpünktlich waren, was wohl auch erklärte, warum so viele Bibliothekare in den letzten fünf Jahren das Weite gesucht hatten. Mein Tagesablauf war simpel strukturiert, aber manchmal echt anstrengend. 7:00 Uhr Arbeitsbeginn. Ausgeliehene Bücher mussten wieder einsortiert und Bücherbestellungen herausgesucht werden. Jeden Montag-, Mittwoch-, Freitag- und Samstagmittag, ab 13 Uhr, war die Bibliothek für Führungen geöffnet, die ich selbst leitete. Die Dauer der Muggel-Führung war abhängig davon, wer bei so einer alles dabei war. Meistens brauchte ich so um die zwei Stunden, denn die Bibliothek war riesig. Heute hatte es sogar zweieinhalb Stunden gedauert, weil ein kleines Mädchen dachte, sie könnte mit ihrer Mutter und mir Verstecken spielen. Als wir das kleine Biest dann endlich eingefangen hatten, nachdem ich ihr heimlich einen Klebefluch an die Schuhe gehext hatte, entschuldigte sich ihre Mutter bei mir. Für sie war ich auch nur eine einfache Bibliothekarin, die ihren Job machte. Dass ich einen Zauberumhang trug, sah sie nicht. Das kommt daher, dass auf den Schuluniformen, der magischen Einrichtung und auch auf den Umhängen der Mitarbeiter ein spezieller Zauber liegt. Durch diese Sicherheitszauber bekommen Muggel nichts von der Zauberschule und seinen Bewohnern mit. Die Kleine schwieg nur trotzig und streckte mir beim Verlassen der Bibliothek auch noch die Zunge heraus. „Nett, die Kleine!“, kam es von der Tür her und Frau Prof. Argentinensis stand in der Tür und schaute dem kleinen Biest hinterher. Ich verkniff mir gerade noch rechtzeitig eine spitze Bemerkung. Ironie und Rhetorik waren nicht gerade die liebsten Eigenschaften von unserer verehrten Direktorin. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass diese Frau es auf mich abgesehen haben musste. Sie wusste über meine finanzielle Situation Bescheid und nutzte dieses Wissen maßlos aus. Immer wieder gab es eine Büchersendung, einen hochwohlgeborenen Gast oder andere Dinge, wegen denen ich Überstunden schieben musste und meist erst nach 22 Uhr zu Hause ankam. Heute war es eine neue Büchersendung, die ich angeblich in die falschen Regale eingeordnet hatte. Die 150 Bücher wieder zusammenzusuchen dauerte länger, als sie einzuordnen. Das wusste Frau Professor natürlich, doch immer wenn ich Einwände erhob oder mich zu verteidigen versuchte, wies sie mich mehr oder weniger deutlich auf meine besondere Stellung hin und dass sich andere danach die Finger lecken würden. Endlich hatte sie ihren täglichen Anpfiff beendet und die Bibliothek wieder verlassen. Es war mittlerweile 17 Uhr vorbei. Nun kamen auch die üblichen Schüler zu mir und brachten längst überfällige Bücher herbei oder liehen sich neue aus. Extrem zerfledderte Exemplare musste ich dann wieder ganz hexen, was auch seine Zeit dauerte. Ruhe in der Bibliothek war mir heilig und so musste ich so manches Mal „Studierende Schüler“ ermahnen, doch leiser zu sein, da sie sonst Haschen in den hinteren Reihen spielten oder dachten eine Bibliothek sei nur zum Knutschen da. Endlich waren alle „üblichen“ Arbeiten erledigt und ich konnte mich den 150 Büchern zuwenden, die umsortiert werden mussten. Die Abendstunden in der Bibliothek waren die schönsten Stunden. Hektische Schüler und Direktorinnen gab es dann meist nicht mehr und nur vereinzelt tauchte jemand auf, der ein Buch vergessen hatte. Das war aber eher selten. Nein, abends war eine ruhige Zeit. Manchmal geschah es dann, dass ich während des Einsortierens ein Buch recht interessant fand und anfing darin zu lesen. Wenn ich einmal anfing zu lesen, war ich für die reale Welt verloren. Nur die alte Stundenuhr sagte mir dann um Mitternacht, dass ich doch nach Hause gehen solle. Diese Stunden waren es, die ich am meisten liebte. Es wurde 21:34 Uhr, als ich müde das letzte Buch ins Regal stellte. Im Laufe des Tages hatte ich immer wieder an meinen merkwürdigen Traum gedacht. Er hatte mich nicht losgelassen und nun, da ich endlich Zeit für Gedanken hatte, ließ ich meiner Neugierde freien Lauf. Ich sah mich kurz um, denn man konnte nie wissen, ob nicht doch noch jemand anderes hier herumlief. Ich weiß nicht, warum ich jetzt auf einmal so leise ging, aber es war fast wie heute früh im Traum. Jetzt, wo ich Raum für Gedanken hatte, zog es mich dahin. Ich lief die Reihen entlang bis zu den Tagebüchern. Dort angekommen stand ich eine Weile und sah mich um. Im Traum war ich auf eine Leiter geklettert, also musste ich es auch jetzt machen. Ich hexte mir die Schiebleiter heran und erklomm die Sprossen. Mein Herz begann schneller zu klopfen, denn ich sah, dass genau das Buch aus meinem Traum vor mir im Regal stand. Keine Aufschrift war zu sehen. Schmal und fleckig wirkte es und war dem Anschein nach sehr alt. Zögerlich klammerte ich mich an der Leiter fest und meine Hand glitt zitternd zu dem Buch hinüber. Im ersten Moment wagte ich es nicht, dieses Buch zu berühren. Ich hatte Angst, alles würde sich wie schon einmal auflösen und ich würde in meinem Bett erwachen. „Mensch Page, sei kein Frosch!“, schimpfte ich mich laut aus, doch es dauerte noch einige Sekunden, bis ich mich überwand. Langsam näherten sich meine Finger dem Einband und mir wurde schwarz vor Augen. Ich bekam Panik, da ich nichts mehr sah, doch dann merkte ich, dass ich aus Angst die Augen geschlossen hatte und in Gedanken weiter gegangen war. Es passierte nichts! Ich hatte das Buch fest gegriffen und es blieb so real, wie es war. Ich atmete erleichtert aus und zog es vorsichtig heraus. Langsam kletterte ich mit wackeligen Beinen die Leiter wieder hinunter und lief zu meinem Lieblingssessel hinter dem Abgabepult. Wie einen Schatz hielt ich das Buch an mich gedrückt und verkroch mich in dem ausgefransten Polster. Erst dann wagte ich es, mir das Buch wieder näher anzuschauen. Es hatte einen grünen Ledereinband und war an einigen Ecken schon sehr geknickt. Ich klappte es auf und las die ersten Zeilen. Mein Atem stockte abermals, als ich sah, wer der Schreiber des Buches war. Das konnte doch gar nicht sein, dass dieses Buch so alt sein sollte. Ich hätte es fast nicht geglaubt, doch ich bemerkte die schwache, magische Ausstrahlung, die von dem Buch ausging. Ich erinnerte mich an den Abschnitt in einem alten Geschichtsbuch. Um 1571 gab es eine junge Frau namens Anna Sydow. Sie war die Geliebte des Kurfürsten Joachim II. Der Geschichte nach wurde sie von des Kurfürstens Sohn in die Festung Spandau gebracht und verstarb dort 1575. Das Tagebuch, welches ich nun in der Hand hielt, war demzufolge 436 Jahre alt. Diese Anna Sydow musste es kurz vor ihrem Tod geschrieben haben, und da das Buch für ein solches Alter wirklich gut erhalten war, musste sie auch noch eine Hexe gewesen sein. Zumindest besaß sie ausreichend magische Kräfte, um ihr Tagebuch vor zeitlichen und witterungsbedingten Schäden zu schützen. Das fleckige Aussehen konnte nur eine Folge des schwächer werdenden Zaubers sein. Ich war vom ersten Augenblick an gefesselt und las es in einem Atemzug durch. Vor allem eine Stelle machte mich sehr neugierig: „3 Jahre nun sind vergangen und er hat mich nicht hinausgelassen. Ob ich hier wohl sterben werde? Dass mein eigener Sohn mich so verraten hat, ist schmerzlich. Womit ich seines Zornes würdig war, weiß ich bis heute nicht und es betrübt mich. Einzig meine Hoffnung bleibt, dass Johann den Fürstenschatz nicht finden möge. Es amüsiert mich, denn jeden Tag sieht er ihn an, den König der Tiere und im Zentrum von dessen Macht befindet sich das Wundervolle …“ Lange saß ich da und grübelte über das eben Gelesene. Es war wie verhext. Ich hatte das Gefühl der Lösung des Rätsels zum Greifen nahe zu sein. Ein Schatten fiel auf das Buch und ich erschrak fast zu Tode, als ich das Gesicht der Direktorin meinem gegenüber sah. Ich hatte sie nicht bemerkt. Ich hatte wie immer alles um mich herum beim Lesen des Tagebuches vergessen. Augenblicklich sollte ich mitkommen und ihr in den Palast folgen. Dort standen einige Kisten herum und sie erklärte mir, dass diese gerade angeliefert worden seien. Da ich diese Anweisung angeblich unterschrieben hätte, sollte ich nun auch dafür sorgen, dass sie in die Bibliothek hinüber kamen. Entsetzt schüttelte ich den Kopf. Ruckartig blieb dieser dann stehen. Mein Blick viel auf ein Wandrelief, das ungefähr so alt wie das Gebäude selbst war. Es zeigte eine Jagdgesellschaft, die einem prächtigen Hirsch nachstellte. Mit einem Schlag fiel mir der Text aus dem Tagebuch von Anna Sydow wieder ein. Ich weiß nicht mehr, was die Direktorin in diesem Moment noch sagte, denn ich hörte ihr schon lange nicht mehr zu. Anscheinend muss ich in diesen Momenten nicht sehr geistreich ausgesehen haben oder sie war wohl auch schon zu müde. Prof. Argentinensis ging nicht weiter auf das Thema mit den Kisten ein und ich stand alsbald allein in dem Raum. Ihr könnt euch sicher denken, dass ich das Relief sogleich untersucht habe und ich konnte es kaum fassen, als sich wirklich eine kleine Tür im Geweih des Hirsches, öffnete. Eine kleine, aber noch gut erhaltene, Schriftrolle lag darin. „Dem, der du es verstanden hast mein Tagebuch zu lesen, Euch sei gesagt, dass Ihr im Westen des Palaststernes Euer Glück wohl finden werdet …“ Ich fiel regelrecht aus allen Wolken, als ich merkte, dass Anna Sydow hier von unserer heutigen Bibliothek sprach. Nur zwei Minuten später erhoben sich die schweren Kisten mittels eines Zaubers und folgten mir hinüber in den Raum mit dem Stern. Die kleine Geheimtür hatte ich wieder verschlossen. Ich fand das Versteck und ich fand auch den Fürstenschatz. Ich war erst unschlüssig, was ich mit ihm machen sollte und entschied mich dann, ihn an ein Museum zu verleihen. Die Geschichte und das Geheimnis von Anna Sydow sollten die Menschen erfahren. Ich hingegen hatte endlich das Geld, mir einmal neue Strümpfe zu kaufen. Es war nicht viel, aber es war mehr, als ich vorher hatte. Meiner Bibliothek im „Château d’eau“ blieb ich treu. Hatte ich doch ihr Geheimnis gelüftet. Ende