1943 - -
Es war ein sonniger Tag im Spätsommer, als Helena den blassen jungen Mann das erste Mal bewusst wahrnahm. Er kam einfach, setzte sich und schaute gelegentlich zu ihr hinüber. Nach einer Weile ging er wieder. So ging es viele Tage. Er kam, setzte sich und schwieg. Wenn ihre Blicke sich trafen, lächelte er sie etwas schief und verlegen an. Helena wollte mit niemandem in Kontakt treten. Sie wollte allein bleiben, in Ruhe gelassen werden und fühlte sich bedrängt. Also wechselte sie ihr bevorzugtes Gebiet und hielt sich eine Weile in der Nähe des Astronomieturms auf. Hier war es für Helena eher unangenehm, denn der Blutige Baron, der sie getötet hatte, war ebenfalls oft dort. Ihm ging Helena immer noch konsequent aus dem Weg. Auch nach Hunderten von Jahren neigte er dazu, ihr Vorwürfe zu machen. In der Zeit vor Halloween aber bereitete er ein Turnier der Kopflosen vor und war deswegen sehr beschäftigt. Er war nun meist in der Nähe der Slytherin-Räume zu finden. Helena stand auf dem hohen Astronomieturm. Sie wünschte sich, sie könnte die Sonne, den Wind und den Regen noch einmal spüren. Ja, Gefühle hatte sie noch viele. Zu viele. Schmerz, Schuld, Trauer. Aber eine Rose riechen, den Regen und den Wind auf der Haut spüren, das würde sie nie wieder. Stoisch blickte sie geradeaus, fühlte, wie ihre Augen von unterdrückten Tränen brannten. „Guten Tag“, sprach eine sanfte Stimme sie leise an, „sind Sie auch so gern hier oben?“ Helena zuckte herum. Dort stand er, der dunkelhaarige junge Mann, den sie in den letzten Wochen so oft gesehen hatte und wegen dem sie sich nun hier aufhielt. Er hatte sie also doch gesucht – und gefunden. Ein Teil von ihr hatte gehofft, sich getäuscht zu haben. Dass es nur ein Zufall war, dass er so oft in ihrer Nähe war. Es war ihr völlig egal, ob sie unhöflich wirkte. Sie floh eilig direkt durch die Wand hinter ihr. „Helena“ hörte sie ihn gerade noch rufen. Sie zögerte. So war sie lange nicht genannt worden. Die Schüler sprachen von ihr als Graue Dame. Die Professoren redeten sie mit „Ms Ravenclaw“ an, wenn es unvermeidlich war, aber Helena? Woher wusste gerade er, wer sie war? Woher kannte er ihren Namen? Heute wollte sie sich nicht damit beschäftigen. Morgen war ein neuer Tag. Zu groß war ihre Scheu und der Wunsch allein zu bleiben. Gleichzeitig nagte der Gedanke an ihr, wer der junge Mann war. Am nächsten Tag zerbrach sie sich den Kopf darüber, wie sie möglichst diskret etwas über ihn herausfinden könnte. Offensichtlich wusste er mehr über sie, als sie von ihm. Das durfte so nicht bleiben! Immerhin folgte er ihr nun schon seit einigen Wochen. Was wollte er nur? Helena hatte sich zurückgewagt in ihren bevorzugten Bereich im „Kreuzgang“. Es war kein echter Kreuzgang, aber Helena mochte die Vorstellung, es wäre einer und den Frieden, den dieser Ort ausstrahlte. Der junge Mann war nun einige Zeit nicht mehr aufgetaucht. Es hatte ziemlich viel Wirbel in Hogwarts gegeben und alle hatten über eine „Kammer des Schreckens“ gesprochen. Helena hatte die Aufregung intensiv miterlebt und war, für sie sehr untypisch, mehrmals am Ravenclaw-Tisch in der Großen Halle erschienen. Sie hoffte, ihrem Haus und den Schülerinnen und Schülern damit etwas Zuversicht spenden zu können. Dafür rang sie sich sogar öfter ein Lächeln ab. Fast wäre die Schule geschlossen worden. Dann wurde der junge Halbriese Rubeus Hagrid der Schule verwiesen. Er sollte angeblich für den Tod einer Schülerin aus ihrem Haus verantwortlich sein. Kurz nach Hagrids Rauswurf gab es eine Feierstunde. Und da war er wieder, der junge Mann, der wochenlang in Helenas Kreuzgang gekommen war. Er wurde geehrt, für besondere Verdienste um die Schule. Er hieß Tom Marvolo Riddle. Merkwürdiger Name, dachte Helena, und ausgerechnet ein Slytherin. Sie hatte doch schon genug Ärger mit dem Blutigen Baron. Immerhin war nun Gleichstand, was die Namen anging. Tom kannte Helenas, sie kannte seinen. Helena war etwas zufriedener. Aber immer noch war die Frage offen, was er von ihr gewollt hatte. Vielleicht hatte der Blutige Baron Tom auf sie angesetzt? Einige Tage sah sie Tom nicht. Langsam fühlte sie ihre Ruhe zurückkehren. Sie fühlte sich weniger angespannt und kehrte zu ihrer üblichen Routine zurück, allein, grübelnd, scheu. Und dann, wie aus dem Nichts, stand er eines Tages in ihrem Kreuzgang wieder direkt vor ihr. Er sah ihr in die Augen, lächelte schüchtern. Dann holte er tief Luft und grüßte mit einer kleinen Verbeugung. „Guten Tag, Ms Ravenclaw. Vielleicht ist diese Anrede angemessener als Helena. Ich bitte um Entschuldigung für das letzte Mal.“ Helena verschlug es die Sprache! Sie starrte Tom an und sagte lange nichts. Schließlich sprach er wieder: „Ich beobachte Sie manchmal, das haben Sie ja schon gemerkt.“ Er blickte sie unverwandt an. „Sie sehen oft sehr einsam aus. Sehr schön und sehr geheimnisvoll.“ Helena schaute zur Seite. „Ich habe es selbst so gewählt und bin zufrieden damit. Lassen Sie mich in Ruhe“, und mit diesen Worten schwebte sie davon. „Darf ich wiederkommen?“, rief Tom ihr nach. Doch Helena ignorierte ihn und verschwand wie meist direkt durch die nächste Wand. Sie eilte um eine Ecke herum und spähte hinter einem Pfeiler hervor, um dem jungen Tom Riddle nachzusehen. Sie fand ihn spannend. Er wirkte nachdenklich und besonders. Er sah gut aus. Und er war sehr nett, hatte gute Manieren. Inzwischen hatte sie von Sir Nicholas de Mimsy-Porpington, dem Hausgeist Gryffindors, gehört, dass er auch Vertrauensschüler sei. Seine Entschuldigung hatte sie berührt. Es schien ihr, dass dieser Tom Riddle anders sein könnte als die anderen Schüler. Wie viele Menschen hatten sich schon über sie lustig gemacht. Oder sie als absonderliche Gestalt abgestempelt. Kaum jemand wusste, wer sie wirklich war. Beim nächsten Mal würde sie netter zu ihm sein, nahm sich Helena fest vor! Lange musste sie nicht auf eine Gelegenheit warten. Zwei Tage nach der letzten Begegnung sah sie ihn wieder. Er bog um die Ecke in ihren Kreuzgang hinein und als er sie sah, verbeugte er sich leicht. „Ms Ravenclaw, es ist mir eine besondere Freude, Sie hier zu sehen“ sagte er. Helena betrachtete ihn und antwortete dann, sehr leise und vorsichtig: „Guten Tag, Tom!“ „Oh, Sie kennen meinen Namen“, sagte Tom etwas überrascht. „Ich war bei Ihrer Ehrung, Tom, daher weiß ich es. Besondere Verdienste um die Schule.“ Tom sah ihr direkt in die Augen. „Ich bewundere Sie!“ „Wofür?“ fragte Helena bitter. Für den Tod meiner Mutter verantwortlich zu sein, niemals aus ihrem Schatten getreten zu sein? Negative Gedanken fluteten ihr Denken und sie zitterte. Tom lächelte vorsichtig. „Ich beobachte Sie nun schon so lange. Sie bewahren immer Ihre Haltung, Sie sind stolz, achtsam, zurückhaltend und ...“, er räusperte sich und wirkte sehr verlegen, „Sie sind sehr schön!“ Er blickte zu Boden und wirkte etwas unsicher. Helena bemerkte, dass er aus dem Augenwinkel zu ihr schaute. Irgendetwas an ihm berührte sie zutiefst. Helena antwortete nicht, sondern sah Tom einfach weiter an. Als er schließlich begann, etwas aus dem Schulalltag zu erzählen, hörte sie ihm zu. Hier und da stahl er ihr sogar ein Lächeln. Weihnachten stand vor der Tür. Die Schüler verließen Hogwarts, nur wenige blieben zurück. Auch Tom blieb. In den vergangenen Wochen hatte er Helena oft besucht und sich viel mit ihr unterhalten. Er war kultiviert, sehr höflich und hatte viel zu berichten. Er war klug und sehr gebildet. Helena mochte ihn. Langsam fasste sie tatsächlich etwas Vertrauen. Das erste Mal seit Jahrhunderten vertraute sie jemandem. Das Schönste war, dass er sie zum Lachen brachte. Herrlich, wie lange hatte sie vorher nicht mehr gelacht? Ihre Schwermütigkeit wich in den Momenten, in denen Tom sie besuchte. Am Weihnachtsmorgen, es war eine bitterkalte und klare Nacht gewesen, kam Tom in ihren Kreuzgang geeilt. „Kommen Sie, Helena, ich habe etwas für Sie!“ Er griff nach Ihrer Hand, doch natürlich glitt seine durch ihre Hand einfach hindurch. Sie lächelte über seinen Eifer und antwortete: „Ich komme!“ Sie folgte ihm aus dem Haus, auf das Gelände und zu den Gewächshäusern. Im Inneren hatte Tom ein Beet voller blühender Rosen in allen Farben hergerichtet. „Ich weiß, dass Sie den Duft der Rosen so sehr vermissen. Also habe ich um Erlaubnis gebeten, ein Beet anzulegen und den Duft magisch verstärkt. Ich hoffe, Sie können ihn riechen?“ Er sah sie hoffnungsvoll an. Helena war sprachlos und sehr gerührt. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal ein Weihnachtsgeschenk bekommen hatte. Immerhin machte es ja keinen Sinn, ihr weltliche Dinge zu schenken. Dies war auch weltlich, aber auf eine andere Art. Er hatte ihr zugehört, wirklich zugehört. Er hatte ihre Sehnsucht verstanden. Und dies hier konnte sie tatsächlich wahrnehmen. Ein Schauer einer Gänsehaut überlief sie, und sie fühlte, wie in ihren Augen Tränen der Rührung brannten. „Tom“, ihre Stimme war fast nur ein Hauch, „ich bin überwältigt! Das ist fantastisch!“ Vorsichtig näherte sie sich den Rosen und atmete tief ein. Das war so herrlich, so wunderschön und Helena fühlte sich sehr glücklich. Sie strahlte Tom an und sagte sehr schlicht: „Danke!“