jerome bennings, Ravenclaw -

Neunzehn Jahre später Harry Potter ging mit seiner kleinen Familie, die aus seiner Frau Ginny und seinen Kindern Lily, Albus und James bestand, wieder einmal auf den Bahnhof King’s Cross zu. Es war der erste September und der Herbst hatte in London und in ganz England mit kühleren Winden und bunten Blättern an den Bäumen Einzug gehalten. Lily war traurig, dass sie noch nicht nach Hogwarts durfte und wurde von ihrem Vater getröstet. Wie oft hatte er das erlebt, zuerst von Ginny seiner Frau, ein Jahr vor ihrer Einschulung. Er warf einen Blick auf seine Frau und erinnerte sich genau an das kleine rothaarige Mädchen, dem er am Bahnhof vor nunmehr 24 Jahren zum ersten Mal begegnet war. Manchmal bedauerte er, dass er nicht mehr in den Zug steigen konnte. Es wäre schön, einmal eine von jeglicher Bedrohung freie Schulzeit miterleben zu können. In diesen Genuss war er leider nie gekommen. Aber er erinnerte sich auch an viele schöne Tage, die aber das Grauen nie ganz verdrängen konnten. Wie immer schauten die Muggel im Bahnhof besonders neugierig auf die Eulen, aber an diese Blicke hatten sich die Erwachsenen schon gewöhnt und ignorierten sie, während Lily immer wieder einwarf, dass die Leute alle so schauten. James und Albus stritten sich noch immer. James ärgerte seinen Bruder wie seit Tagen mit der Möglichkeit, dass er nach Slytherin kommen könnte, weil er ja auch Severus hieße. Ginny musste wieder einmal dazwischengehen, hatte aber Sorgen, dass James damit im Hogwarts-Express weitermachen würde. Aber James hatte momentan Anderes zu tun, denn stolz griff er sich den Gepäckwagen und verschwand hinter der Absperrung zwischen Gleis neun und zehn. Das nutzten die doch etwas genervten Eltern aus und beruhigten den jüngeren Bruder. Sie würden ihm regelmäßig schreiben und er solle sich keine Sorgen machen, weil Hogwarts eine wunderbare Schule wäre. Als alle schließlich den Bahnsteig 9 ¾ erreicht hatten, machten sie sich auf die Suche nach Ron und Hermine mit ihren Kindern Rose und Hugo. Sie fanden sie schließlich am letzten Wagen. Rose trug bereits ihren neuen Umhang, denn sie würde mit Albus in die erste Klasse kommen. Ron berichtete kurz über die Hinfahrt zum Bahnhof, die er zum ersten Mal am Steuer eines Autos selbst machte. Sie sahen auch Draco und seinen Sohn Scorpius. Ja, auch Draco war älter geworden, genauso wie Ron, Hermine und Ginny. Sie waren längst keine Kinder mehr. Harry seufzte und vermisste all die Toten. Tonks, Lupin und vor allem auch seinen Paten Sirius. Und mit einem doch etwas zwiespältigem Gefühl dachte er an Severus Snape, während James stolz berichtete, dass er Victoire und Teddy Lupin beim Knutschen gesehen hatte. Er dachte auch mit großer Wehmut an seinen Freund und Mentor Albus Dumbledore zurück. Noch immer grübelte er darüber nach, auf welcher Ebene sich sein letztes Treffen, genau hier auf diesem Bahnsteig, mit ihm abgespielt hatte. Harry hatte alle Einzelheiten noch genau im Kopf, wie etwa das Schreien des Wesens, das dabei unter einem Stuhl anwesend war. Er hatte die Überzeugung gewonnen, dass es sich um den Seelenrest handeln musste, den Voldemort bei der Tötung seiner Eltern bei ihm zurückgelassen hatte. Das Schreien dieses Wesens würde er nie vergessen. In dem Moment klang ihm dieses Schreien wieder im Ohr, genauso wie er es damals mit seinem toten Schulleiter gehört hatte. Er befreite sich aus seinen Gedanken, weil es schon gleich elf Uhr sein musste, wie er nach einem Blick auf Fabian Prewetts Planetenuhr feststellte. Aber das Schreien in seinem Ohr blieb und schien unter der Bank herzukommen, unter der damals schon dieses grausige Wesen gelegen hatte. Er schüttelte sich noch einmal und verabschiedete die Kinder, die sich aus dem Fenster lehnten und winkten, wobei er Lily, die herzergreifend schluchzte, kräftig umarmte und drückte. Aber noch immer war dieses Schreien in seinem Ohr und nachdem der größte Lärm verebbt war, schien es ihm noch lauter zu sein als vorher. „Was schreit denn hier so?“, fragte Hermine schließlich. „Ist hier eine Katze vergessen worden?“ Und Harry lief es eiskalt den Rücken hinunter. Das Schreien war echt und er ging sofort die wenigen Schritte zu einer Bank; an die Stelle, an der er den Stuhl gesehen hatte – und hoffte, eine verirrte Katze zu finden. Selbst eine kreischende Veela oder Banshee wäre ihm jetzt angenehm gewesen. Sein Herz pochte rasend schnell als er sich hinunterbeugte und genau auf das Wesen starrte, das er vor neunzehn Jahren schon einmal gesehen hatte und das sich unvergesslich in sein Gedächtnis eingebrannt hatte. Er merkte erst, wie sehr er zitterte und wie schrecklich er aussehen musste, als Ginny schrie: „Harry! Sag doch was! Was ist da denn? Du siehst ja schrecklich bleich aus und warum zitterst du auf einmal?“ Hermine und Ron schauten auch sofort unter die Bank und prallten zurück, als hätten sie ein Gespenst gesehen. Um ehrlich zu sein, sie sahen ein Gespenst. Sie wussten sofort, was es war. Harry hatte ihnen oft genug und genauestens erzählt, was im Verbotenen Wald vorgefallen war. Sie wussten auch, was er während seiner Bewusstlosigkeit erlebt hatte. Seiner scheinbaren, dachte Hermine sofort. Es war das schreiende Wesen, wund und fast hautlos, dem man nach Dumbledores Worten nicht helfen konnte, wie alle wussten. Etwas anderes konnte es nicht sein. Ginny hatte inzwischen Lily und Hugo schnell zum Ausgang des Bahnsteigs gebracht und hindurchgeschickt. Sie wusste, sie konnte nicht helfen, winkte einmal zu allen herüber und verschwand auch zurück in die Muggelwelt. Hermine, Harry und Ron hatten inzwischen halbwegs ihre Fassung wiedergefunden und beschlossen alles genau zu untersuchen. Sie waren wieder zu dritt, wie häufig in ihrer Schulzeit und Harry entdeckte bei Ron sofort, dass er sich mehr über ein Abenteuer freute, als dass er Furcht vor diesem unheimlichen Bündel hatte. Harry nahm seinen Mut zusammen, einen Mut, den er oft genug bewiesen hatte und dachte an Albus Dumbledore. Er schaute dem Wesen ins Gesicht, was er sich damals nicht getraut hatte. Unverkennbar erkannte er greisenhafte Züge Voldemorts auf einem nackten und wunden Babykörper. Aber irgendwie schien ihm dieses Wesen aus irgendeinem Grunde noch geisterhafter als sonst. Und nun geschah etwas, was alle überraschte. Hermine griff zum schreienden und klagenden Wesen, als wollte sie es hochheben und – griff hindurch. Alle wussten sofort, was das bedeutete und anders konnte es gar nicht sein. Das Wesen war ein Geist. Natürlich war es ein Geist. „Wie bekommen wir den Geist eines Babys hier weg, Harry? Sowas ist mir noch nie untergekommen und ich habe von so etwas noch nie gehört“, sagte Hermine. „Bei der Aurorenausbildung habe ich gelernt, dass Babys nie zum Geist werden können – sie leben noch nicht lange genug, als dass etwas sie zurückhalten könnte. Und ja, wir müssen den Geist hier wegbekommen – wir können ihn nicht hierlassen, er würde für ewig hier liegen und den Anblick können wir Kindern nicht zumuten. Man kann ihn eigentlich niemandem zumuten“, sagte Harry darauf. Er erinnerte sich an sein zweites Schuljahr und an Professor McGonagall – sie hatte mit einem Föhn den „versteinerten“ Nick transportiert. Aber er könnte wohl kaum quer durch das London der Muggel einen Geist pusten, ins Ministerium hinein. Es blieb nur eins. „Was machen wir denn jetzt damit?“, fragte Ron. „Wir können ihn nicht transportieren, man greift ja ständig hindurch. Und mit dem da“ – er deutete auf das kleine, schreckliche Wesen – „möchte ich nicht Seit-an-Seit apparieren. Und wohin sollten wir das Ding auch bringen?“ „Ron, mit Geistern kann man nicht apparieren. Das Apparierfeld nimmt sie nicht mit – das ist unmöglich!“, erwiderte Hermine. „Wir müssen wohl warten, bis der Hogwarts-Express zurückkehrt“, erwiderte Harry. Professor McGonagall hat damals Nick mit einem riesigen Föhn die Treppe hochgepustet. Ich weiß, wie man so einen Föhn herbeizaubert.“ Unwillkürlich griff er zu seiner Narbe, die er seit neunzehn Jahren nicht mehr gespürt hatte. Und er spürte weiterhin nichts, er hatte auch nichts gespürt, als er den Geist aus der Nähe betrachtet hatte. Er beugte sich noch einmal unter die Bank und zwang sich, seinen Kopf in den Geist hineinzulegen. Sofort durchzuckte ihn ein leichter Schmerz. „Harry, was machst du da?“, fragte Ron entsetzt. „Das ist ja eklig, schon bei normalen Geistern!“ „Das ist ein normaler Geist und auch wieder nicht. Ich habe probiert, ob meine Narbe wieder schmerzt, wenn ich direkten Kontakt mit dem Geist habe. Ein leichtes Ziepen ist schon zu verspüren – es ist der Geist des Seelenstückes von Tom Riddle, das in mir drin war“, sagte Harry. Entsetzt schauten Ron und Hermine ihn an. „Leute, es ist ein Geist, der immer ein hilfloses Baby sein wird. Er kann uns nicht schaden!“ „Ja, aber es ist der Geist von „Du-weißt-schon-wer“. Willst du den nach Hogwarts bringen? Wir müssen dafür sorgen, dass ein Basilisk ihn anschaut“. „Ron!“, schimpfte Hermine. „Einen Basilisken! Hagrid würde das gefallen, aber du kannst keinen Basilisken anschleppen. Ein Basilisk! Welch eine Idee! Aber den Geist von Voldemort“ – sie betonte bewusst diesen Namen, nachdem Ron zum ersten Mal seit Jahren diese Umschreibung gewählt hatte, die damals in der Zaubererwelt normal gewesen war, „in Hogwarts unterzubringen, Harry, finde ich auch keine gute Idee. Wo willst du ihn unterbringen? Du weißt ja, Schüler finden überall hin!“ „Ich denke, es gibt einen Ort, wohin kein Schüler kommt. Ich glaube sogar, wir waren die Letzten, die dort waren“, warf Harry ein. Ron schaute überrascht, aber Hermine wusste sofort, was Harry meinte: „Die Kammer des Schreckens? Es ist ein Baby, auch wenn es Riddle ist – das können wir nicht machen.“ „Willst du ihn im St. Mungos aufpäppeln lassen? Wie willst du das bei einem Geist machen?“, meinte Ron etwas amüsiert. „Es ist kein bewusster Geist. Wie es das Teilstück einer Seele ist, ist es auch nur das Teilstück eines Geistes. Es ist nur der verzweifelte Wunsch zu leben, der Voldemorts ganzes Leben auch schon bestimmt hat. Das trieb dieses Trümmerstück eines Bewusstseins, das Relikt eines Geistes, in diese Welt hinein, aus der Anderwelt, die ihm zu sehr nach Tod aussah. Ja, hier an King’s Cross war die Battle Bridge, wo Boudicea beerdigt liegt und der vor uralten Zeiten von icenischen Zauberern in einen Durchgang zur Anderwelt verwandelt wurde. Hier tauchte das schwache Seelenbruchstück auf und hier fand es den Weg zurück in die Welt der Lebenden. Dieses Wesen, denke ich, hat das Bewusstsein eines Wurmes – es will nur leben. Das hat er von der Seele, wo es herstammt, mitgenommen. Es wird überall leiden, denn Erinnerungen tauchen wohl wie Bilder auf und verschwinden sofort wieder. Es ist egal, wohin wir dieses unglückliche Wesen bringen. Die Kammer des Schreckens, finde ich, ist eine passende Gruft für ihn – den letzten kläglichen Rest des Dunklen Lords. --------------------------------------------------------------------------------------- Harry, Ron und Hermine ließen alles vorerst so, wie es war und eilten zurück in den Bahnhof der Muggel, wo Ginny und die Kinder schon unruhig warteten. Harry erklärte seiner Frau alles, während Hermine und Ron die Kinder mit einem Eis ablenkten. Ginny war zuerst entsetzt, beruhigte sich aber schnell wieder, nachdem sogar ihr Bruder die Harmlosigkeit dieses Dings akzeptiert hatte. Alle fuhren mit Ron, der gern, aber nicht gut am Steuer saß, zum Tropfenden Kessel. Harry hatte inzwischen Minister Shacklebolt informiert, der sich persönlich berichten ließ und die Idee mit der Kammer des Schreckens für richtig hielt. Er war auch damit einverstanden, dass sich Hermine, Ron und Harry darum kümmerten und nicht die Auroren oder die Geisterbehörde. „Je weniger Menschen davon wissen, umso besser. Wir Zauberer und Hexen neigen manchmal zu panischen, ja hysterischen Reaktionen, wie du weißt, Harry“, meinte der Zaubereiminister. Am nächsten Morgen kamen Hermine, Ron, Ginny und Harry auf Gleis neundreiviertel zusammen, wo der Hogwarts-Express schon unter Dampf stand. Harry hatte auch Professor McGonagall informiert, die als Leiterin der Schule natürlich Bescheid wissen musste. Und diese stieg auch aus dem Zug, erklärte, wie schwer es wäre, einen großen Föhn erscheinen zu lassen und tat genau das. Harry und Ron schafften es schließlich, Tom Riddles unsterbliche Überreste in den Express zu blasen. In einem anderen Wagen nahmen alle Platz und tauschten wie alte Freunde Geschichten von früher aus. Bereits im Dunkeln kam der Zug in Hogsmeade an und Voldemorts Schatten wurde in ein Boot am Ufer des Sees geblasen. Aber kein Hagrid wartete auf sie und sie mussten das Boot selbst in den Tunnel rudern. Sie erinnerten sich alle noch gut – ja, auch Minerva McGonagall – an die Bootsfahrt vor dem ersten Schuljahr. Die Schüler waren in den Gemeinschaftsräumen und die Hauslehrer achteten darauf, dass alle da waren. Und so hörte nur die uralte Mrs Norris das Pusten des Föhns und selbst Myrte war durch den Hausgeist der Hufflepuffs auf ein Schwätzchen in die Verbotene Abteilung eingeladen worden. Harry schaffte es nicht mehr, aber Ron hatte die Töne, die damals Harry von sich gegeben hatte, noch genauso im Ohr. Er machte nur das, was er gemacht hatte, als Hermine und er die Basiliskenzähne am Tag der Schlacht von Hogwarts geholt hatten. Sie schafften es nach einiger Mühe, die Reste des schrecklichsten Zauberers aller Zeiten zu den Überresten seines Basilisken zu pusten. Alle waren froh, als die Kammer sich wieder schloss und sie das Jammern des Geistes nicht mehr hören mussten. Sie nahmen ein spätes Mahl am sonst leeren Gryffindor-Haustisch ein, genau an den Plätzen, auf denen sie meist gesessen hatten. Nur Professor McGonagall verstand ihre Stimmung und setzte sich zu ihnen, auf ihren alten Platz als Schülerin. Allen war melancholisch zumute – sie dachten alle an die Schulzeit zurück und niemand sagte ein Wort. Nur Neville stieß zu ihnen, ihm erzählten sie, was sie hier im Schloss machten. Er lockerte schließlich die Melancholie mit Anekdoten über die Schüler auf. Noch in der Nacht apparierten sie zurück nach Hause, nachdem sie sich von Professor McGonagall und Neville verabschiedet hatten. All was finally well.