Adventskalender

5. Dezember

Weihnachtszauber

Premierminister Smith stand am Fenster seines Büros in der Downing Street und schaute in den trüben Novemberregen. Er dachte an seine Tochter Ashley und seufzte. Seit 11 Jahren sollte dies nun die erste Adventszeit ohne sie werden.

Klar, Ashley war nun alt genug, um auf ein Internat zu gehen, keine Frage, aber so war das eigentlich nicht geplant gewesen. Die Anmeldung für das Mädcheninternat in der Nähe der Großeltern war schon längst erledigt und gelassen hatte Smith damals auf die Antwort gewartet. Wer würde schon die Tochter des Premierministers ablehnen, als an Ashleys 11. Geburtstag eine Eule ins Haus geflattert kam.

Sie hatte einen dicken Brief im Schnabel und verkündete darin Unglaubliches. Ashley sei eine Hexe und sie könne auf die Schule für Hexerei und Zauberei nach Hogwarts gehen.

Plötzlich erinnerte sich Smith an seinen ersten Tag als Premierminister. Er war kurz allein in seinem neuen Büro, als auf dem hässlichen Wandbild das Porträt eines altertümlichen Schreibers ankündigte, dass der Zaubereiminister demnächst zu einem Gespräch erscheinen würde.

Was dann kam, war ein Schock. Es gibt tatsächlich eine geheime Welt mit Hexen und Zauberern in England. Smith hatte erst an einen schlechten Willkommensscherz gedacht, aber leider war der Zaubereiminister mit seiner kurzen Vorführung von Verwandlungen und Schwebezaubern sehr überzeugend. Niemals wollte Smith mit jemandem darüber reden, jeder würde ihn doch für verrückt halten. Sogar seiner Frau hatte er kein Sterbenswörtchen davon verraten. Aber dann kam die Eule und alles änderte sich.

Nun ging Ashley schon über zwei Monate nach Hogwarts und Smith hatte sie seit dem 1. September nicht mehr zu Gesicht bekommen. Sie fehlte ihm so unglaublich. Sie war schließlich sein Ein und Alles. Auf dem Mädcheninternat hätte er sie jederzeit besuchen können, aber in Hogwarts waren keine Menschen zugelassen. Ashley tat ihr Bestes und schrieb oft, aber sie fehlte ihm.

Ja, er hatte viel zu tun, ständig jagte eine Krise die nächste, aber für seine Tochter hatte er sich immer Zeit genommen. Vor allem in der Weihnachtszeit waren sie viel gemeinsam unterwegs gewesen. Sie hatten als Familie Weihnachtsmärkte besucht und gemeinsam den schönsten Baum ausgesucht, um ihn zu schmücken. Natürlich hätte das auch der Innendekorateur machen können, aber es war ein so schönes Weihnachtsritual, das wollte sich Smith nicht nehmen lassen.

Doch dieses Jahr war nun alles anders. Ach ja, seufzte er, was soll man da machen. Regeln sind Regeln. Im Antwortbrief von Professor McGonagall auf seine Anfrage, ob er mit seiner Tochter gemeinsam am ersten Adventswochenende, ihrer Familientradition entsprechend, einen weihnachtlichen Bummel in der Winkelgasse machen könne, stand, dass das leider nicht ginge. Laut Zaubereigesetz zwecks der Geheimhaltung der Zauberwelt war das Betreten der Winkelgasse durch Muggel (nicht Magier) nur in der Woche vor dem Schulbeginn erlaubt. Natürlich hätte Smith mit Ashley auch auf einen normalen Weihnachtsmarkt gehen können, wie von der Professorin vorgeschlagen, aber er war neugierig auf die Welt, in der seine Tochter nun lebte. Die Winkelgasse hatte so viele interessante Läden, dass sie bei ihrem ersten Besuch nicht genug Zeit für alle hatten. Ob es zu Weihnachten wohl auch geschmückte Fenster und Weihnachtsbäume gab? Roch es nach gebrannten Mandeln und Marzipan? Erklang Weihnachtsmusik und gab es Weihnachtselfen oder Feen? Wer brachte in der Zauberwelt eigentlich die Geschenke?

Gedankenverloren schritt Smith vor dem Fenster auf und ab. Was nutzte es, der Premierminister Englands zu sein, wenn man nicht einmal seine Tochter sehen konnte, wann und wo man es wollte?

Nein, das wollte er auf keinen Fall akzeptieren! Entschlossen schritt er zum Schreibtisch und baute sich vor dem hässlichen Wandbild auf. Er räusperte sich und begann mit lauter Stimme zu sprechen. „Ich muss sofort mit dem Zaubereiminister sprechen!“

Zuerst tat sich nichts, aber dann erwachte der Schreiber plötzlich zum Leben und verkündete, dass der Zaubereiminister sich in Kürze melden würde.

Drei Wochen später nahm Smith seine Frau in den Arm und gemeinsam machten sie sich auf den Weg zur Winkelgasse. Dort endlich sollten sie ihre geliebte Tochter wieder in die Arme schließen.

Nach etwas zähen Verhandlungen mit dem Zaubereiminister, in denen Smith immer wieder versucht hatte zu erklären, wie wichtig ihm die Weihnachtsbräuche der Familien wären und dass bestimmt auch andere Muggelfamilien mit Hexenkindern gerne mehr über die Welt ihrer Kinder erfahren würden, um sie besser zu verstehen, gab es eine langsame Annäherung. Schließlich wussten doch spätestens nach den Schulbriefen alle Mitglieder der jeweiligen Familien sowieso über die Zauberwelt Bescheid, da machte die bisherige zeitliche Begrenzung der Besuche in der Winkelgasse wirklich keinen Sinn.

Damit die Muggelfamilien dauerhaften Zugang zur Winkelgasse bekommen würden, wurden feste Portale eingerichtet. Wie sich herausstellte, hatten auch die Geschäftsleute in der Winkelgasse um solche Portale möglichst in der ganzen Welt gebeten, um mehr Kundschaft anzulocken. Denn sogar die Zaubererwelt hatte immer mehr mit Bestell- als mit Laufkunden zu tun. Dies führte zu einer Überlastung der Posteulen und zum teilweisen Erliegen der Ladengeschäfte in den Zauberergegenden. Warum einen Laden unterhalten, wenn man das Gewünschte doch auch zu Hause produzieren und verschicken konnte? Das spart Zeit, Geld und Personal, dachten sich wohl einige Produzenten von Zaubererbedarf. Smith war die Parallele zur Menschenwelt dabei nicht entgangen.

Endlich waren Smith und seine Frau an der festlich geschmückten Dreifaltigkeitskirche angekommen. Als sie zur Rückwand gingen, kam ihnen ihre Tochter schon entgegengelaufen. Freudig fielen sie sich in die Arme und machten sich zusammen auf den Weg in ein neues Weihnachtsabenteuer.


Fünf Jahre später war Smith wieder mit seiner Frau auf dem Weg zur Kirche. Er war schon lange kein Premierminister mehr, aber die Portale zur Winkelgasse gab es immer noch. Was als Versuch begann, entwickelte sich zu einem großen Erfolg. Natürlich konnten Muggel, wie er, die Portale nur in Begleitung von einem Zauberer oder einer Hexe betreten, aber für Mitglieder der Zauberergesellschaft waren sie immer zugänglich. Wie der Zaubereiminister ihm an seinem letzten Tag in der Downing Street erzählte, benutzten auch immer mehr Zauberer aus aller Welt die Portale, um in die Winkelgasse zu gelangen. Vor allem in der Weihnachtszeit war ein Ausflug mit der Familie dorthin sehr beliebt. Die Händler freuten sich sehr darüber und ließen sich für jedes Jahr eine neue Überraschung einfallen, wie sie die Winkelgasse schmückten.

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